Geschrieben am 8. Mai 2013 von für Bücher, Litmag

Salman Rushdie: Joseph Anton

Salman_Rushdie_Joseph_AntonMixtum Compositum

– Warum Rushdies „Joseph Anton“ gescheitert ist & dennoch nicht enttäuscht. Von Wolfram Schütte.

Ich kann mich an kein Buch erinnern, dessen Lektüre ich so oft (aus Ärger über den Autor) vorzeitig beenden wollte & zu dem ich dann doch immer wieder (aus moralischen Gründen) zurückgekehrt bin wie Salman Rushdies „Joseph Anton“.

Aus „moralischen Gründen“? Ja: So oft ich mich auch abwenden wollte bei dieser Autobiografie, die sich vor allem mit dem knappen Jahrzehnt beschäftigt, in dem der indischstämmige britische Autor des Romans „Die satanischen Verse“ nach der 1989 ausgerufenen Fatwa des iranischen Revolutionsführers Ayatollah Khomeini befürchten musste, ermordet zu werden & sich vor seinen möglichen muslimischen Mördern verstecken musste – so oft ich mich enttäuscht & verärgert abwenden wollte, so oft bin ich zu seiner Lektüre zurückgekehrt, weil ich dachte, ich sei es Salman Rushdie schuldig, wenigstens den Bericht von seinem persönlichen Martyrium zu lesen.

Schließlich hat Rushdie, der (wie ich mich noch gut erinnere) damals von vielen Seiten (gerade auch politisch linken) angefeindet wurde, diese Zeit als lebende Zielscheibe & als lebender Vorwurf für alle, die ihn entweder verachteten oder durch vielerlei Arten des Appeasements mit muslimischen Fundamentalisten „verraten“ hatten, am Ende überlebt.

Er hat gewissermaßen sowohl das moralische Recht als verfolgter Autor, darüber zu erzählen, wie wir Leser gewissermaßen in der „Pflicht“ sind, ihm – dem wir doch einige große Romane verdanken – dabei zuzuhören.

Warum aber wollte ich Rushdies Autobiografie immer wieder verlassen? Ganz einfach: Weil „Joseph Anton“ nach meinem Eindruck gewiss nicht sein bestes Buch ist (& der eloquente Schriftsteller sein fortgesetztes Namedropping der Prominenz allzu sehr zu genießen scheint). Rushdies ästhetisches Scheitern mit „Joseph Anton“ hat Gründe, die nicht nur im Charakter seines Autors liegen, sondern sich auch aus den Problemen des von ihm literarisch eingeschlagenen Wegs ergeben.

Der Autor, sah sich von einem Tag auf den anderen aus dem Himmel seines vielfach erfolgreichen Lebens (Reichtum, Ansehen & Glück) durch die Fatwa in die Hölle des lebensbedrohlich Verfolgten gestürzt. Der in Indien geborene Muslim ist am Valentinstag 1989 gewissermaßen nach hinduistischer Nomenklatur vom Bramahnen zum Paria geworden. Um sich zu retten, hat er scheinbar eine neue Identität angenommen, zumindest seinen Namen gewechselt & sich aus den Vornamen seiner beiden Lieblingsautoren Joseph Conrad & Anton Cechov seinen Zweitnamen aktiviert. Einige seiner wechselnden britischen Sicherheitsbeamten nannten ihn einfach „Joe“.

Die satanischen VerseOpulente Inszenierung eines Lebens im Verborgenen

Rushdie, der sich mit dem Selbstbewusstsein eines weltliterarischen Autors wegen seiner literarischen Arbeit verfolgt & aufs Leben bedroht sah, wählte als rettenden „Nom de plume“ zwei Autoren, von denen der eine – der gebürtige Pole Korzeniowski – in die englische Literatur immigrierte (wie der Inder, der die „Mitternachtskinder“ schrieb), der andere aber als Dramatiker & Erzähler Weltruhm erlangte – vor allem aber durch die Kürze seiner Erzählungen: ein Ziel, das der immer in großer Besetzung und opulenter Instrumentierung literarisch komponierende & aufspielende Rushdie bislang mit seinen dickbauchigen Romanen nicht erreicht hatte.

So sehr der Autor literarisch wie ökonomisch auf großem Fuß lebt & sein Leben auf hohem Einkommensniveau genießt, so sehr versteht er sich aber auch als Künstler, der sich auf dem höchsten artistischen Level der ernsthaften Weltliteratur der Gegenwart bewegt, gewissermaßen (und nicht zu Unrecht) als ein Charles Dickens unserer Tage.

Sein Leben im Verborgenen wurde also von ihm bewusst durch seine Namenswahl literarisch konnotiert, was sich bald als richtige symbolische Wahl herausstellte, weil sein rund zehnjähriges Leben in wechselnden Häusern & Wohnungen mit seinem Wachpersonal als „Joseph Anton“ ebenso abenteuerlich wie romanhaft verlief.

Als er nun daran ging, seit er wieder als Salman Rushdie (gewissermaßen „öffentlich“, zumindest bislang unbehelligt) in New York lebt, die Zeit als Verfolgter darzustellen, wählte er als sein Selberlebensbeschreiber den auktorialen Erzähler, der über sich fast ausschließlich in der dritten Person schreibt – also die klassische Erzählposition des Romans.

Das reflektiert zum einen die existenzielle Distanz, die der Autor zu seiner erzwungenen Rolle hat, zum anderen erlaubte es ihm aber auch, über sich wie über einen seiner früheren oder späteren literarischen Helden zu schreiben.

Nicht ganz allerdings. Die Autobiografie ist literarisch ein haariges Genre. Rushdie hat sich auch noch Rousseaus hochgesteckte Maxime vorgenommen, sich der weitestgehenden, gewissermaßen schamlosen Wahrheit über sich als Person zu befleißigen.

Näher an seine „wirklich“ gelebte Existenz als in „Joseph Anton“ ist Rushdie nie zuvor & danach gegangen, öffentlicher hat er sein Privatleben auch nie (mehr) gemacht. Wenn man am Ende des Buchs seine Danksagung liest, erfährt man, dass sowohl Archive als auch Einzelpersonen dem Autobiographen vorgearbeitet haben. Außerdem erwähnt Rushdie mehrfach, dass er während des Jahrzehnts ein Tagebuch geführt habe, das nicht nur Fakten sondern auch jeweils seine Einschätzungen, Urteile & Emotionen festhielt.

Zu viel Gossip & Namedropping

Offenbar aber, um sein Leben während der Zeit des Joseph Anton wenn nicht lückenlos, so doch ausführlich zu beschreiben, zu erklären & auch zu rechtfertigen (dass z. B. zwei seiner Ehen während dieser Jahre in die Brüche gingen), geht er sehr – um nicht zu sagen: zu sehr – ins Detail: bei seinen Häuser- & Ehefrauwechseln, Lieben & Scheidungen, Verhandlungen, Gesprächen, Treffen & Essen mit seinem Agenten, Verlegern & hochgestellten Politikern wie z. B. Clinton, Thatcher, Blair oder den Chefs von Scotland Yard oder dem aus James-Bond-Filmen bekannten MI5. Zugleich aber schreibt er über Freunde & engere Bekannte (wie seine Ehefrauen oder Schriftsteller-Kollegen) nicht „auktorial“, sondern „privat-subjektiv“, d. h. diese Personen treten vornehmlich nur als Vornamen auf – was den Nachleser zwar zum intimen Freund macht & ihm aber auch die stetige Aufmerksamkeit für die Fülle von Vornamen abverlangt, mit denen „Salman“ verkehrt.

Kurz & wenig gut: Im Laufe seiner über 700 Seiten wird eine Menge bloß positivistisch verständliches „gossip“ ausgebreitet, das über ein 11-seitiges Personenregister von Neugierigen auch erreichbar ist.

Solches erzählerisches „Geröll“ kommt einem beim Durchqueren der Autobiografie immer wieder entgegen; ebenso stereotypische positive Charakterisierungen für die meist noch lebenden Begleitpersonen – familiäre so gut wie fremde. Denn der weltbekannteste Autor der Gegenwart, dessen „Joseph Anton“ zeitgleich in mehr als zwanzig Ländern & Sprachen erschien, muss schon allein aus juristischen Gründen vorsichtig mit seinem Wissen & Urteilen umgehen. Auch will er sich als dankbarer Freund zeigen, vor allem aber sollen wir erfahren, wie sehr er an seinem Sohn Zafahr hängt, der während diese Jahre aufwuchs.

Solche Rücksichten brauchte ein Romancier bei seinem fiktiven Personal oder ein Autor, der seine Autobiografie fiktional camouflierte (wie z. B. Karl Philipp Moritz in seinem „Anton Reiser“), nicht zu haben.

Diese einander widerstreitenden literarischen Intentionen verwässern das Buch & zerstören die wohl ursprüngliche Ambition Rushdies, seinem weltbekannten Fall – 1 Mann gegen die Welt – ein einzigartiges, literarisch gelungenes Profil zu geben: Die Allegorie des islamistischen Terrors & das Versagen der Verteidigung der europäischen Aufklärung & Kunst angesichts der intoleranten Irrationalität des muslimischen Fanatismus.

Denn Salman Rushdie sieht seine Fatwa als Anfang einer welthistorischen & weltpolitischen Entwicklung, die in dem New Yorker Massenmord von 9/11 gipfelte. Darauf deutet nicht nur hin, dass er sein Buch mit der Zerstörung des World Trade Centers enden lässt (in deren staubigem Schatten er sich vom Albdruck seiner drohenden Ermordung löst); sondern stärker noch: auch sein „Prolog“ ist als solche Metapher zu verstehen. Das Buch beginnt mit dem Bild-Zitat der hinter Tippi Hedren im Schnitt/Gegenschnittverfahren sich zum Unheil & dem Angriff auf die am Ende explodierende Tankstelle versammelnden Krähen in Hitchcocks filmischer Apokalypse „Die Vögel“.

Anekdoten & kuriose Szenen

Obwohl also Rushdies „Joseph Anton“ ein missglückter literarischer Wurf ist, lohnt jedoch die Lektüre dieses Mixtum Compositums durchaus. Denn Rushdie ist ein faszinierender Autor auch dort, wo er kompositorisch im Großen scheitert, ihm jedoch im Kleinen & Detail immer wieder sinnliche Personenbeschreibungen, groteskkomische szenische Augenblicke & eindrucksvolle, intellektuell originelle Einsichten gelingen.

So ist das Porträt seines Vaters, der die historische, widersprüchliche Kompilation, aus welcher der „Koran“ besteht, durch eine historisch-kritische Edition glätten wollte, für Salman Rushdies eigene kritische Haltung gegenüber jeder Form von Religion fundamental wichtig. Ihm fehlte von Anfang an das, was Romain Rolland gegen Freuds antireligiösen Essay „Das Ende einer Illusion“ als das „ozeanische Gefühl“ bezeichnete. Das „ozeanische Gefühl“ ist auch dem Autor der „Satanischen Verse“ fremd. Er hat also gar nicht dem Islam „abschwören“ können, weil er nie ein gläubiger Muslim war – ganz abgesehen davon, dass sein Roman eben ein Produkt der Fiktion sei & nicht eine Sachaussage über die Realität.

Rushdie wird nicht müde, die Kunstfreiheit immer wieder gegen die missbräuchliche Verwendung seines Buches durch islamistische Scharfmacher ins Feld zu führen. Aber er weiß, dass gegen religiösen Fanatismus argumentative Aufklärungsversuche immer scheitern werden. Deshalb besteht er darauf, unmissverständlich & kategorisch die Unabhängigkeit & Freiheit des Denkens & der aufklärerischen Rationalität gegen jeden Versuch zu behaupten, der den „Glauben“ jeglicher (religiöser) Art für „höher als Vernunft“ hält. Da ist mit ihm nicht zu spaßen & wer sich von seinen literarischen Kollegen (wie z. B. John le Carré) nicht auf seine Seite gestellt hatte, wurde & blieb ein Feind bis zur Niederschrift der Autobiografie.

Kurios ist der Kampf des Beschützten aus der Fürsorglichkeit der Briten – die ihn am liebsten (i.e. sichersten) vor der Welt versteckt hätten – in ein bisschen mehr Freiheit in der Öffentlichkeit zu gelangen, also in die Nähe der „Normalität“, will sagen: zu öffentlichen Auftritten, Partybesuchen & Reisen. (Wobei er daran erinnert, dass ihn die Briten wie die Deutschen in ihren Fluglinien nicht mitreisen lassen wollten, sehr wohl aber die Österreicher.)

Die Beamten der USA waren da flexibler – was ihnen & dem Staat Rushdies dankbare Sympathie einbringt. An seinem Wunsch, nach dem Ende seiner vorsorglichen Geiselhaft künftig in den USA leben zu wollen & ihrem fortgesetzten Kinderwunsch, dem er nicht nachkommen wollte, ist dann auch seine dritte Ehe zerbrochen. Ab 2000 allein in den USA lebend, lernte der in der High Society der Reichen & Schönen mit Lust & Laune verkehrende ältere Herr ein blutjunges indisches Model kennen, um das ihn – wie er mit Besitzerstolz in seinem „Joseph Anton“ berichtet – der bekannte Womanizer Robert Redford bei einem Mittagessen in Hollywood lauthals beneidet. Jedoch diese letzte seiner vier Ehen war für ihn in jeder Hinsicht eine dreijährige Messaliance. Nicht nur wurde ihm von der jungen Schönheit sein Alter vorgehalten (obwohl er sie an einen noch Älteren, vor allem aber noch Reicheren verlor); sondern auch seine Prominenz war es, worauf das blendende Model zunehmend eifersüchtig wurde.

Roberto_Saviano

Der italienische Schriftsteller Roberto Saviano

Indem ich derlei Gossip für erwähnenswert erachte, sitze ich nun aber selbst in der Falle, in die Rushdie selbst gegangen ist & seine Leser gelockt hat. Die schönste, komischste Anekdote des Buches soll deshalb noch erwähnt werden. Als Rushdie einmal von seinen britischen Bewachern aufgefordert wird, sich verkleidet auf die Straße zu wagen, erkennen ihn die Passanten sofort und rufen sich – wie in einer Komödie – zu: „Schaut mal das Arschloch Rushdie mit Perücke!“.

P.S. Augenblicklich befindet sich der italienische Autor Roberto Saviano in Joseph Antons (Über-)Lebenssituation. Da er wegen seines literarisch geführten Kriegs gegen die italienische Mafia von der italienischen Staatspolizei versteckt gehalten wird – aber sich weigert, außerhalb Italiens in ein zweite Identität zu wechseln – fragt man sich, wie er es fertig bringt, Bücher wie sein eben erschienenes über Kokain zu schreiben. Rushdie konnte sich durch seine Fiktionen als Erzähler aus dem klandestinen Ghetto hinausschreiben, aber Savianos Bücher existieren ja nur aufgrund von vielfachen Recherchen in der Wirklichkeit. Umso bewundernswerter ist der Autor, der nun Rushdies existenzielle Rolle übernommen hat – ganz in dessen „aufklärerischem“ Sinne.

Wolfram Schütte

 Salman Rushdie: Joseph Anton. Die Autobiografie. Aus dem Englischen von Verena von Koskull und Bernhard Robben. München: C. Bertelsmann Verlag 2012. 720 Seiten. 24,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Leseprobe. Zur Webseite des Autors. Porträtfoto: Wikimedia Commons 3,0. Autor piero tasso.

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