Geschrieben am 5. Dezember 2015 von für Bücher, Litmag

Sachbuch: Michael W. Austin/Peter Reichenbach (HG): Die Philosophie des Laufens

austin_reichenbach_laufenEine (akademische) Liebeserklärung an das Laufen

Aufwärmen: Schön in einer Schutzfolie verpackt bekam ich ein Exemplar von „Die Philosophie des Laufens“. Ich wurde rasch neugierig, da auf dem Buch ein schickes und vielversprechendes Coverbild mit zwei modisch gekleideten Läufern in Neonfarben prangte. Von Grizel Delgado.

Der Innenteil mit seinen blauen Untertiteln und seinem sorgfältigen Layout erweckt einen hervorragenden ersten Eindruck. Dieses Buch wurde definitiv für LäuferInnen mit Geschmack gemacht. Aber nun muss ich langsam mit dem Lesen anfangen, denn es erwartet mich eine „Strecke“ mit herausforderndem Profil: 200 Seiten bestehend aus 15 Essays über die Philosophie und Laufens. Ich stolpere gleich im Inhaltverzeichnis auf philosophische Titel wie „Wie man zum Laufen wird – Phänomenologisch betrachtet“ oder „Laufen als ästhetische Erfahrung“.

Glücklicherweise ist eine Art Kompass für die Leser vorhanden: das Vorwort und auf die vom Mit-Gründer des mairisch Verlages P. Reichenbach verfasste Einführung, in denen die Thematik aller Essays kurz geschildert wird. Gut durchdacht sind außerdem die Porträts der AutorInnen am Ende des jeweiligen Essays. Aber genug mit Aufwärmen.

An diesem Punkt können Sie sich entscheiden, was für eine Strecke für Sie in Frage kommt. Die kurze oder die lange. Beide münden im Fazit.

Kurze Strecke: Der mairisch Verlag bietet auf seiner Homepage eine kleine Leseprobe an. Da können Sie sehr schnell erkennen, ob Sie der Typ für ein Sachbuch sind, das keine Einführung in die Philosophie aber auch kein unterhaltsames Sportbuch ist. Sie werden in diesem Titel keine Trainingspläne oder Ernährungstipps finden. Sie werden auch keine philosophischen „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“-Beiträge finden. Und genau das macht die Definition des Buches schwierig. Die Themen sind nicht leicht und das Buch lässt sich in der U-Bahn überhaupt nicht gut lesen, zumindest ist das unmöglich in der Berliner U-Bahn.

Damit möchte ich jedoch nicht vom Lesen abraten. Sondern vielmehr nur bewusst machen, dass das Lesen dieses Buches Zeit und Ruhe erfordert. Und wenn Sie sie finden, dann werden Sie es nicht bereuen, etwas über Nietzsche und den Zwerg in uns beim Laufen zu erfahren. Oder Sie werden endlich zwischen Läufer und Jogger unterscheiden können. Der Aufsatz „Zum Lobe des Joggers“ ist ein Plädoyer für die Jogger, aber auch ein Aufruf an erfahrene Läufer, die vielleicht das (große) Freiheitsgefühl des Laufens mit der Zeit vernachlässigt haben, zu dessen Ursprung zurückzukehren.

Mit anderen Worten, dieses Buch ist wie der übliche Weg zum Marathon für einen durchschnittlichen Läufer. Zuerst fängt man mit 5 Kilometer an, danach sind die 10 an die Reihe. In einem mutigen Moment meldet man sich zum Halbmarathon an. Und irgendwann wartet man beim Start eines Marathons ungeduldig auf das Startsignal. Wenn Sie verstehen, was ich meine und selber auf den Weg sind, ein Läufer zu werden, dann lesen Sie das Buch unbedingt.

Lange Strecke: „Die Philosophie des Laufens“ wurde im Prinzip für alle Läufer konzipiert: für die, die ein paar Kilos abnehmen wollen, für improvisierte Jogger oder für Neujahrsläufer. Dieses Buch wurde auch für Läufer gemacht, die ihren Sport so sehr lieben, dass sie jede Gelegenheit dafür nutzen, darüber zu philosophieren. Für jeden ist etwas dabei. Sogar für die Philosophen, die mit dem Gedanken spielen, zu laufen.

Das Laufen wird aus mehreren Perspektiven betrachtet. Nicht als eine reine sportliche Aktivität, sondern auch als eine seelische – fast spirituelle – Tätigkeit. Man läuft und dann passieren Sachen, die für die anderen nicht sichtbar sind. Das Laufen ist auf den ersten Blick die einfachste und günstigste Sportart von allen. Es ist unkompliziert und sogar einsam. Aber was diese scheinbar eintönige Aktivität mit sich bringt, ist ganz weit weg davon. Und bei den meisten AutorInnen dieses Bandes geht es genau darum: auf diese widersprüchliche Eigenschaft des Laufens einzugehen und unter die Lupe zu nehmen: Was ist das Laufen und warum kann eine so einfache sportliche Tätigkeit so viel Leidenschaft in den Menschen hervorrufen? Es ist unkompliziert aber wiederum nicht, weil man dabei schwierige Selbstgespräche führt, unerwartete Lösungen für Probleme findet oder mit sich selbst – plötzlich – wieder klar kommen kann.

Die meisten Läufer kennen dieses Gefühl von reinem Glück während oder nach dem Laufen. Erfahrene Läufer wissen, was für eine unendliche Leere die letzte absolvierte und längste Trainingseinheit eines Marathons hinter sich lässt, weil man sich danach von seinen langen Selbstgesprächen eine Weile verabschieden muss. Nur Läufer wissen, dass Leiden nicht immer schmerzhaft ist.

Sind die Läufer auch noch Philosophen, Schriftsteller oder Blogger in einer Person, dann erhalten diese Gefühle Konturen und Tiefenschärfe. Dann ist es nicht mehr unvorstellbar über Freundschaft, Philosophie und gleichzeitig übers Laufen zu sprechen. Dann ist es möglich, solche Eindrücke genau zu erläutern oder gewisse Empfindungen zu veranschaulichen.

Wer das Buch liest, wird eine Sammlung von verschiedenen Stimmen erleben. Es sind nämlich 15 AutorInnen mit unterschiedlichem Background (Philosophen, Autoren, Journalisten oder Leistungssportler) beteiligt. Die Themen decken alles Mögliche ab, von Existentialismus bis zu Lauf-Apps, vom Ursprung des Marathons bis zum ersten 10-Km-Lauf. Damit Sie eine bessere Übersicht erhalten, möchte ich die Buch-„Strecke“ anhand von ein paar Zitaten beschildern. Viel Spaß damit!

„Da wir oft zu Selbstbetrug neigen, oder zumindest dazu, den eigenen Charakter falsch einzuschätzen, brauchen wir gute Freunde, die uns helfen, uns so zu sehen, wie wir wirklich sind – und uns dann auch darin unterstützen, tugendhaft und glücklich zu werden“ Michael W. Austin (Das Glück gemeinsam jagen. Laufen und Aristoteles´ Philosophie der Freundschaft).

„Sie müssen dem Zwerg in sich widerstehen, wohl wissend, dass sie ihn niemals ganz überwinden können. Und während sie so leidenschaftlich und hingebungsvoll kämpfen, von Unmengen Endorphinen durchströmt, rufen sie dem Himmel ihr amor fati zu. Wir können uns denken, wie erfreut Nietzsche wäre.“ Raymond Angelo Belliotti (Langstreckenlauf und der Wille zur Macht).

„Den ganzen August über laufe ich fleißig zweimal die Woche. Meine Freunde nennen es trainieren, mir ist das Wort zu groß, das klingt ja, als würde ich es irgendwie ernst meinen.“ Isabel Bogdan (Alsterlauf – die ersten Zahn)

„Für Nicht- Leistungssportler wird Bewegung zum Teil mit Sex und Körpernähe assoziiert, man ist lediglich fit for fun. Was ist der Fun im Leistungssport? Popkonzerte finden zu Trainings- und Wettkampfzeiten statt. Sex gibt es mehr in Gedanken als real.“ Jan Drees (Programm ist Programm – Über das Laufen als Leistungssport)

„Das existenzialistische Konzept der Eigentlichkeit – derjenige zu sein, der man wirklich ist – ist ein zentrales Element der Idee eines guten Lebens. Laufen kann ein Fluchtweg aus der echten Welt, aus der Herde sein, und somit die Basis dafür sein, unser eigentliches Selbst zu erkennen.“ Heather L. Reid (Die Freiheit des Langstreckenläufers)

Fazit: “Die Philosophie des Laufens“ ist für langjährige Läufer sowie Akademiker mit einer Vorliebe zum Laufen sowohl eine Herausforderung als auch ein Genuss.

Da ich selbst diesen Sport innig liebe, würde ich davon abraten, das Buch als Geschenk für einen Laufanfänger zu verwenden. Denn das wäre fast genauso, wie jemanden nach dem ersten Date zu heiraten. Aber ok, wenn es sich um eine große Liebe handelt…, dann greifen Sie ruhig zu.

Grizel Delgado

Michael W. Austin/Peter Reichenbach (HG): Die Philosophie des Laufens. U.a. mit Jan Drees, Isabel Bogdan, Armin Chodzinski, Maximilian Probst, Robert Semmler, Michael W. Austin, Florian Blaschke, Amby Burfoot u.v.a. Mairisch Verlag 2015. Hardcover mit Neonfarben. 200 Seiten. 18,90 Euro.

Grizel Delgado (*1982 Mexiko-Stadt), studierte Literaturwissenschaft in Mexiko-Stadt, und Computerlinguistik in Tübingen und Düsseldorf. Derzeit arbeitet sie als Schulbuchredakteurin für Spanisch beim Cornelsen Verlag in Berlin. Das Laufen gehört seit ihrer Jugend zu Ihren größten Leidenschaften neben der Literatur und dem Klettern. 2012 meisterte sie ihren ersten Marathon in Düsseldorf. Es folgten weitere in 2013 und 2014. Am liebsten läuft sie in der Natur oder, wenn sie in Mexiko ist, auf einer Höhe von 3500 Metern.

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