Wen der Hunger nährt
– Martín Caparrós klärt leidenschaftlich, aber in wohlgewählter, sachlicher Sprache über die Hintergründe für den Hunger auf der Welt auf. Von Michael Höfler
Was ist Hunger? Die Frage mutet simpel an. Der aus Argentinien stammende Martín Caparrós beginnt sein Buch, indem er den nichthungernden Lesern vor Augen führt, dass sie Hunger für das Bedürfnis halten, etwas zu essen, wenn ihnen danach ist. Dabei sei richtiger Hunger ein existenzieller Zustand, der das Leben auf die Frage reduziere, woher man die nächste Mahlzeit bekommt: „Zukunft ist der Luxus derjenigen, die Nahrung haben.“ Hunger ist für Caparrós keine Krankheit und kein Schicksal, sondern habe überall auf der Welt ganz konkrete Ursachen: „Den Hunger versteht man nur allzu gut, obwohl er nicht existiert: Er ist eine Erfindung des Menschen, unsere Erfindung“ – und „eine Metapher für Armut“.
Caparrós erzählt seine Geschichte des Hungers, indem er zwischen Nähe und Distanz zum Thema wechselt. Die Kapitel alternieren zwischen Gesprächen, die er mit Hungernden in Mali, Indien, Bangladesh, den USA, Argentinien, dem Südsudan und Madagaskar geführt hat, und Reflektionen über die Ursachen auf der Ebene von Geschichte, Gesellschaft und Weltwirtschaftsordnung. Dazwischen gibt er vielfältige Antworten auf seine Untertitel-Frage wieder: „Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ (die enthält mehrere Unterfragen, wenn man Teile am Ende weglässt). Auf der individuellen Ebene hat der Hunger vor allem die Ursache, dass der Hunger den Menschen jede Vorstellung einer Alternative geraubt hat: „Sie wissen nicht – sie wollen, können nicht wissen, begreifen nicht –, dass es ein anderes Leben geben kann.“ (Bei dieser heutigen Sicht fehlen die historischen Beispiele für Hungeraufstände in Europa; die Schlussfolgerung würden sie allerdings nicht verändern.) Gesellschaftlich lassen sich für Caparrós die Gründe damit zusammenfassen, dass der Hunger Abhängigkeiten erhält, die viele nähren.
Caparrós untersucht den Themenkomplex Hunger mit allem, was dazugehört: Almosen, Fastfood, Evolution, Kriege. Dabei stellt er vieles in Frage, was die meisten Menschen für selbstverständlich halten: Nationen, Ländergrenzen, anhängige Lohnarbeit, Vererbung von Privatbesitz. Gleichzeitig vermeidet er grundsätzliche Technologiefeindlichkeit und Glorifizierung des kulturellen Erhalts („ökomanischer Bewahrungswahn“). Stattdessen schreibt er leidenschaftlich, aber in wohlgewählter, sachlicher Sprache gegen den Hunger an – „in einer Wirklichkeit, die sich als einzig gültige Wahrheit ausgibt und in der kein Platz ist für Träume und Wünsche“.
Martin Caparrós nimmt sich auf über 800 (großzügig gedruckten) Seiten viel Anlauf, eher er zu dezidierten Antworten kommt. So sorgfältig, wie er das Thema Hunger durchkaut, nimmt er auch die skeptischen Leser auf seiner Suche nach Erklärungen mit. Somit hat er ein Buch geschrieben, das mit seinen gutverdauten Inhalten in die Zivilisationsrettungs-Bibliothek der Menschheit gehört.
Michael Höffler
Martín Caparrós: Der Hunger. „Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ Suhrkamp, 2015. 844 Seiten. 29,95 Euro.