Geschrieben am 26. Januar 2006 von für Bücher, Litmag

Ryszard Kapuscinski: Reisen mit Herodot

Die Nachbarn des nächsten Nachbarn

In einer kleinen, 1923 erschienenen Buchrezension hat Joseph Roth einmal ein auch heute noch gültiges Motto für guten Journalismus verfasst: „Ein Journalist“, schreibt Roth, „kann, er soll ein Jahrhundertschriftsteller sein. Die echte Aktualität ist keineswegs auf 24 Stunden beschränkt. Sie ist Zeit- und nicht tagesgemäß“.

Der Journalist als Jahrhundertschriftsteller – ein großes, fast zu pathetisches Etikett, das man nur wenigen zeitgenössischen Publizisten zuerkennen möchte. Ryszard Kapuscinski, den langjährigen Auslandskorrespondenten polnischer Nachrichtenagenturen und Zeitschriften, wird man sicherlich zu diesem kleinen Kreis rechnen können. In Polen hat man ihn sogar schon zum größten polnischen Journalisten des XX. Jahrhunderts ernannt. Aber auch ohne diese immer etwas subjektiven Etikettierungen gehört Kapuscinski sicherlich zu den Journalisten, deren Arbeiten Maßstäbe setzen für die große Reportage – solange diese noch einen Platz in unseren Zeitungen hat. Selbstverständlich ist das unter dem Diktat der grellen Schlagzeilen und der Boulevardisierung des heutigen Zeitungsjournalismus schon lange nicht mehr.

Langsam nähert sich auch der 1932 geborene Reporter Ryszard Kapuscinski, der in den Jahrzehnten seines Berufslebens fast die ganze Welt gesehen hat, einem Alter, in dem man Bilanzen zieht, Autobiographien schreibt, an Lehren für die kommenden Generationen denkt. Und mit der ihm eigenen Bescheidenheit gibt er den jüngeren Journalisten nur einen Rat mit auf ihren Berufsweg: Lest Herodot! In dessen Schriften, fast fünf Jahrhunderte vor Christus verfasst, findet man alles, was man wissen muß, um ein guter Chronist der Weltereignisse zu werden.
Sein Leben lang hat Kapuscinski immer und immer wieder Herodot gelesen, hat dessen Schriften auf seinen Reisen stets griffbereit in der Tasche gehabt, hat mit ihm in einem ununterbrochenen imaginären Gespräch gestanden. Und von dieser Portalfigur seines Journalistenlebens berichtet er uns auch in seinem neuesten, wie immer von dem Wiener Journalisten und Schriftsteller Martin Pollack glänzend übersetzten Buch „Reisen mit Herodot“. Von diesem antiken Historiker und Geschichtenerzähler ist auf den Seiten des Buches selbst dort die Rede, wo Kapuscinski von frühen Reisen nach China, Indien, in das Innere des afrikanischen Kontinents, in den Iran erzählt. Er schreibt und erzählt ja immer im Geiste seines großen Vorbilds Herodot.

Irgendwann in den fünfziger Jahren hörte Kapuscinski an der Universität Warschau im Rahmen einer Vorlesung über das antike Griechenland zum ersten Mal etwas von dem Reisenden Herodot. Lesen konnte er damals noch nichts von ihm, da die polnischen Übersetzungen seiner Werke nur sehr langsam veröffentlicht wurden. Dann war es die Chefredakteurin einer Tageszeitung, die Kapuscinski den Auftrag gab, von der Welt draußen jenseits der polnischen Grenzen zu berichten.
„Frau Tarlowska griff in einen Schrank, holte ein Buch heraus und sagte, während sie es mir überreichte: ‚Das ist von mir, für unterwegs.’ Es war ein dickes Buch mit einem steifen, gelben Leineneinband. Vorn sah ich den mit goldenen Lettern eingestanzten Namen des Autors und den Titel. Herodot. Historien.“

Und je mehr der unentwegt reisende Reporter Kapuscinski von der Welt sah, umso besser verstand er auch die Schriften Herodots zu lesen. Dessen Weltneugierde, dessen Art, sich dem Fremden und den Fremden zu nähern, eignete sich Kapuscinski immer mehr an.
Manchmal, müde der alltäglichen Chronistenpflicht, zog er sich einfach aus der hautnahen Beobachtung von Kriegen, Stammesfehden, Palastrevolten zurück, um mit der Lektüre von Herodot alleine zu sein.

„Wo immer Herodot hinkam, versuchte er die Namen der Stämme, ihre Ausbreitung und ihre Gebräuche aufzuschreiben. Wer wo wohnt. Wer seine Nachbarn sind…..Ich kenne meine nächsten Nachbarn – das ist alles, und sie kennen andere, und die wieder die nächsten, und so gelangen wir bis ans Ende der Welt.“

So einfach kann man das Prinzip Herodot zusammenfassen, wenn einen die Neugierde um die Nachbarn des nächsten Nachbarn in die Welt hinaustreibt. Hinzu kommen aber muß noch eine Neugierde auf geschichtlichen Zusammenhänge, geographische Besonderheiten und mentale Eigenheiten der fernen Nachbarn. Damit ist auch schon das Faszinierende und Einzigartige an dem Reportagestil von Ryszard Kapuscinski zusammengefasst. Er nimmt seine Leser mit auf seine Weltentdeckungsreisen. Er präsentiert nicht sofort seine Allwissenheit über eine Region etwa in Zentralafrika oder im Hinterland von Teheran. Vor manchen Reisen und Begegnungen zeigt er sogar Angst, will fliehen. Warum tue ich mir das an, fragt er sich immer wieder, in der Gluthitze des Kongo etwa oder fröstelnd in der Eiseskälte Sibiriens. Idyllen gibt es nie in den Reiseerzählungen des Ryszard Kapuscinski. Er will seine polnischen und mitteleuropäischen Leser nicht verführen zu Traumreisen à la ‚jenseits von Afrika’, sondern sie mit der oft verdammt gewalttätigen, ungerechten, harten Realität auf der ‚anderen uns fremden, unvertrauten Seite’ in der Welt des Nachbarn unseres Nachbarn konfrontieren.
An einer Stelle schreibt Kapuscinski über seinen Meister Herodot: „Er genoss die Lebensfülle, lernte die ganze Welt kennen, traf eine Menge Menschen, hörte Hunderte von Geschichten; er war ein aktiver Mensch, immer in Bewegung, unermüdlich und unablässig nach etwas suchend, mit etwas beschäftigt.“

Wer die Reportagebände von Ryszard Kapuscinski gelesen hat, die im Deutschen alle in einer ausgezeichneten Edition bei Eichborn vorliegen, erkennt in den Zeilen über Herodot natürlich immer auch ein Selbstporträt des Autors. Kapuscinski empfindet sich als einen Zwerg auf den Schultern des Riesen Herodot. Aber für die Journalistengeneration nach Kapuscinski wird auch dieser als ein Riese erscheinen. Wer wissen will, wie einem das Werk eines antiken Schriftstellers hilft, die Welt heute diesseits und jenseits unserer Grenzen zu beschreiben, sollte „Reisen mit Herodot“, sollte eigentlich alle Bücher von Ryszard Kapuscinski lesen, einem im Sinne von Joseph Roth, nicht tages- aber zeitgemäßen weltneugierigen Reporter wie es gegenwärtig nur wenige gibt.

Carl Wilhelm Macke

Ryszard Kapuscinski: Reisen mit Herodot. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Eichborn-Verlag, Frankfurt am Main, 2005