Das Geheimnis von Zeit und Raum
– In ihrem neuen Roman erzählt Ruth Ozeki die Geschichte zweier Familien aus Japan und Kanada, die durch eine Flaschenpost über die Kontinente hinweg verbunden werden. Die Autorin, Filmemacherin und Zen-Priesterin spürt dabei auch dem Rätsel der „Seins-Zeit“ und der Magie des Augenblicks nach. Karsten Herrmann weiß mehr.
Ozekis Hauptfigur ist die 16-jährige Nao, die in Japan ein Tagebuch für einen imaginären Empfänger schreibt. Nao ist aus Amerika, wo ihr Vater nach dem Platzen der Dotcom-Blase seinen Job verlor, in ihr Heimatland zurückgekehrt und fühlt sich hier wie ein Fremdkörper. Sie wird in der Schule bis auf das Äußerste gemobbt, und wie sie selbst, steht auch ihr Vater ständig am Rande des Selbstmords. Den einzigen Halt bietet Nao ihre Urgroßmutter Yasutani Jiko, die in frühen Zeiten Schriftstellerin, Feministin und Anarchistin war und jetzt als Zen-Nonne in einem kleinen Kloster lebt. Hier lernt Nao die japanische Mythologie und das Meditieren samt „Supapowa“ sowie die Geschichte ihres Onkels Haruki kennen, der als Kamikaze-Pilot im Zweiten Weltkrieg starb.
In Form einer Flaschenpost erreicht dieses Tagebuch, das unter dem Einband von Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“ steckt, mitsamt einer Reihe von Briefen und einer alten Uhr die von einer Schreibhemmung geplagte Schriftstellerin Ruth auf einer kleinen Insel an der kanadischen Küste. Ruth lebt hier mit ihrem exzentrischen Mann Oliver, einem Autodidakten und enzyklopädisch gebildeten Alles- und Nichtskönner, der Kunst- und Landschaftsprojekte vorantreibt (die Namensgleichheiten mit der Autorin und ihrem Mann bleiben nicht die einzigen autobiographische Parallelen in diesem Roman). Ruth setzt sich auf die Spur von Nao und ihrer Familie und versucht deren Schicksal aufzuklären.
Ruth Ozeki, die selbst Tochter eines Amerikaners und einer Japanerin ist, hat in ihrem Roman mit dem Aufeinandertreffen zwei Welten eine reizvolle Ausgangskonstellation mit parallel laufenden Erzählsträngen geschaffen. Naos Tagebuchbericht kommt trotz der tiefen Verzweiflung der Schreiberin lakonisch, frech und trendy daher und gibt tiefe Einblicke in die japanische Hoch- und Popkultur. Er ist dabei auch vom philosophischen Hauch des Buddhismus durchzogen und spürt der „Sein-Zeit“ und dem vollendeten Augenblick hinterher.
Über die ersten gut zweihundert Seiten vermag dieser wunderbar erzählte Roman den Leser so auch zu packen und zu faszinieren. Wie so viele Bücher von dieser Länge droht er aber zunehmend seinen Schwung zu verlieren und einerseits im Nebensächlichen zu versanden und anderseits im allzu Bedeutsamen – nämlich den eingeflochtenen welthistorischen Ereignissen vom Zeiten Weltkrieg, über 9/11 bis zum Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima – zu ersticken.
Aber im Endspurt gelingt es Ruth Ozeki doch wieder die einzelnen Fäden bedeutsam zusammenzuführen und in einer herrlichen Symbiose aus Buddhismus und Quantenphysik die geheimnisvollen Dimensionen von Zeit und Raum zu offenbaren.
Karsten Herrmann
Ruth Ozeki: Geschichte für einen Augenblick. Aus dem Amerikanischen von Tobias Schnettler. S. Fischer. 560 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Mehr zur Autorin.