Der Untergang
— Die letzten Stunden im Leben des Muammar Gaddafi hatten etwas von Hitlers Götterdämmerung im Bunker unter der Reichskanzlei in Berlin. Und Yasmina Khadra hat sie genial eingefangen. Von Andreas Pittler
42 Jahre lang lenkte Muammar Gaddafi das Schicksal Libyens, eines Landes, das es vor ihm in dieser Form gar nicht wirklich gab. Erst von den Osmanen beherrscht, dann eine italienische Kolonie, zuletzt von einem korrupten Operettenkönig in den Abgrund getrieben, erlebte Libyen erst durch Gaddafis Revolution anno 1969 so etwas wie einen Nationswerdungsprozess. Gaddafis sozialistisch angehauchter Islam, kombiniert mit Ölreichtum und internationalem Netzwerk, verschaffte vielen vorher bettelarmen Wüstenbewohnern einen beachtlichen Wohlstand. Frauen lebten verhältnismäßig emanzipiert, Wohnungen waren billig, Schulbildung und Gesundheitsversorgung gratis. Kein Wunder, dass viele Libyer den charismatischen Revolutionsführer nahezu vergötterten.
Doch wie in so vielen Fällen in der Geschichte stieg Gaddafi der Ruhm irgendwann zu Kopf, und aus dem „Bruder Präsident“ wurde der despotische Führer, dessen politische Winkelzüge bald niemand mehr tolerierte, geschweige denn verstand. Und so endet Gaddafi, gehetzt und verfolgt, in seiner Heimatstadt Sirte, wo er sich, bar jeglicher Hoffnung, verschanzt, eine Situation, die partout an Hitlers letzte Stunden im April 1945 erinnert. Gaddafi verschiebt Armeeeinheiten, die es nicht mehr gibt, verflucht Verräter oder solche, die er dafür hält, und wartet auf Entsatz, der niemals kommt. Und so flieht er schließlich, von allen Getreuen verlassen, in ein Kanalrohr, wo sich sein Schicksal erfüllt.
Yasmina Khadra hat sich dieses historischen Stoffs angenommen. Aus der Sicht Gaddafis werden diese letzten Augenblicke in der Belagerung Sirtes rapportiert. Der Präsident ist müde geworden, kann sich nur mehr durch die Einnahme von Drogen auf den Beinen halten und flieht in seinen Gedanken immer wieder zurück in die glorreiche Vergangenheit, da ein Wink von ihm genügt hatte, um alle Feinde erzittern zu lassen.
Beinahe ein wenig stolz blickt er zurück auf den unehelich geborenen Nomadenjungen, der in der Armee von oben herab behandelt wurde und der dem Schuldirektor nicht gut genug als Schwiegersohn war. Überflüssig zu erwähnen, dass seine Vorgesetzten in der Kaserne und der Herr Direktor nach Gaddafis Machtübernahme ein gewalttätiges Ende fanden, während Gaddafi selbst vom italienischen Ministerpräsidenten, vom französischen Staatschef, von Königen, Religionsführern und sonstigen Würdenträgern hofiert wird. Gaddafi kann stolz auf sich sein.
Doch die ringsum einschlagenden Granaten, das Geschützfeuer und die knatternden Maschinengewehre holen den Diktator immer wieder in die triste Gegenwart zurück. Er denkt an das Ende von Saddam Hussein und hofft, mit mehr Grandezza abgehen zu können. Am Ende freilich gleichen sich die Schicksale der beiden auffallend. Der eine wurde aus einem Kellerloch gezerrt, der andere aus einem Kanalrohr gefischt. Und beide werden sie im Alter von 69 Jahren ermordet. Gaddafi schildert, scheinbar bereits in einer anderen Welt befindlich, auch haargenau dieses Ende, und er stirbt in der Überzeugung, dass mit ihm auch Libyen sterben wird. Betrachtet man den „failed state“, den Libyen heute darstellt, dann hatte der – historische – Gaddafi in diesem Punkt Recht.
Algeriens literarische Visitenkarte
Yasmina Khadra, der eigentlich Mohammed Moulessehoul heißt, wurde um die Jahrtausendwende mit seinen ebenso fesselnden wie sozialpolitisch hellsichtigen Kriminalromanen um Kommissar Brahim Llob – wie „Morituri“, „Herbst der Chimären“ oder „Nacht über Algier“ – berühmt, die ihn in eine Reihe mit Klassikern des Genres wie Hammett, Chandler, Glauser oder Malet stellten. Ging es ihm damals vor allem um die Entwicklung in seiner (früheren) Heimat Algerien (die ihn auch in späteren Werken wie „Worauf die Affen warten“ beschäftigt), so hat er sich nun des langjährigen Staatslenkers in Algeriens Nachbarschaft zugewandt. Dies nicht ohne Grund, wie Khadra in diversen Interviews betont. Gaddafi strahlte in seiner Jugend die Hoffnung auf afrikanische Emanzipation und Fortschritt aus, und tatsächlich erkennt man lange Zeit das Charisma, das jenen Mann auszeichnete, der schon mit 27 an die Macht gekommen war. Wenn er selbst auf Auslandsreisen in seinem prachtvollen Beduinenzelt campierte, wenn er sich als Mäzen der Künste und des Sports präsentierte und in seinen Reden wieder einmal der ganzen Welt zu trotzen vorgab, dann konnte man sich dem Flair dieses Mannes wohl tatsächlich nur schwer entziehen.
Khadra fängt diese Strahlkraft der Person Gaddafis in seinem Roman genial ein. Selbst in dem Augenblick, da alles verloren ist, zieht Gaddafi noch einfache Soldaten, Diener und einige letzte Helfer in seinen Bann. Die Überzeugung, die Vorsehung wache über ihn, lässt ihn bis weit über das vernünftige Maß hinaus ausharren, doch anders als Hitler findet Gaddafi nicht die Kraft, sich selbst zu töten. Denn er glaubt, das Schicksal werde ihn ein weiteres Mal davonkommen lassen.
Ohne Zweifel war Gaddafi (mehr bei CM hier) ein Meister der Selbstinszenierung. Khadra inszeniert nun seinerzeit die letzten Stunden Gaddafis als eine Art Untergangs-Movie, das förmlich nach einer Verfilmung schreit. Der Roman weist alle Ingredienzien auf, die ein hervorragendes Stück Literatur braucht, und es spricht einiges dafür, dass Khadra mit „Die letzte Nacht des Muammar Gaddafi“ einen Klassiker geschrieben hat, auf den in Zukunft immer wieder verwiesen werden wird. Zu Recht!
Andreas Pittler
Yasmina Khadra: Die letzte Nacht des Muammar al-Gaddafi. Übersetzt von Regina Keil-Sagawe. Osburg-Verlag 2015. 189 Seiten. 18,00 Euro