Von Narben und Wunden
Der Schriftsteller Harry Crews (1935 – 2012)
von Anna Veronica Wutschel
Die Welt ist aus den Fugen geraten, mit der Welt stimmt etwas nicht. Das ist eine der größten Urängste des Menschen, der, ohne darum gebeten zu haben, in Systeme hineinkatapultiert wird, die womöglich nicht funktionieren, und der sich diesen letztlich wie ohnmächtig ausgeliefert fühlt. Harry Crews wurde in so ein System geboren und hat seine fast unerträglich schwere, von Armut, Krankheit und Gewalt gezeichnete Jugend im ländlichen Georgia in einer hochgelobten Autobiographie „A Childhood. The Biography of a Place” verarbeitet, die als ein Schlüssel zu seinem literarischen Werk verstanden werden kann. Verarbeitet, so gut das möglich war, denn dazu sagte er selbst: “Writing that book damn near killed me.”
Das Niederschreiben und erneute Durchleben dieser Zeit führte also keineswegs zu der Katharsis, die sich Crews erhofft hatte, doch auch wenn Wunden Narben hinterlassen, stellt er gleichermaßen optimistisch fest: “There is something beautiful about all scars of whatever nature. A scar means the hurt is over, the wound is closed and healed, done with.” Narben hat er sich dann ebenfalls im Korea-Krieg zugezogen, und überhaupt sollte sein weiteres Leben von Exzessen und dem rough life bestimmt sein. Ein amerikanischer Journalist, Steve Oney, formulierte es vielleicht überspitzt, darf indes so zitiert werden :
“To say that Harry was prone to trouble is an understatement. He rarely backed down from a fight. He drank too much. He never met an attractive woman he didn’t try to seduce. Strange and sometimes terrible things simply happened to him, but he would have had it no other way. He called his philosophy ‚getting naked‘, and if it led him into some jams it also helped him to produce works of fiction that could take your breath away.”
Grit Lit, Southern Noir, Southern Gothic, whatever
Crews produzierte bis zu seinem Tod 2012 nicht nur 17 Romane, sondern auch unzählige Kurzgeschichten, Essays und einige Drehbücher, u. a. eins für seinen Kumpel Sean Penn, auch wenn der Film niemals realisiert werden konnte. Der Status des großen Literaten jedoch, der in die dunklen Ecken schaut, das harte Leben der unteren Schichten, der Außenseiter sprachlich meisterhaft inszeniert, war Crews lange Zeit nicht gegönnt. Vielmehr genoss er einen Kultstatus, wurde als “the baddest Bad Boy” der amerikanischen Literaturszene gehandelt, was nicht zuletzt durch sein zuweilen toughes, auch als rüde bezeichnetes Auftreten zurückzuführen ist. Mit Irokesenfrisur und umfangreich tätowiert, wurde er, nachdem er ein Schreib- und Literaturstudium abgeschlossen hatte, schließlich selbst zum Dozenten für Creative-Writing-Kurse und zu einer Legende auf dem Campus. 1988 huldigten ihm die Subkultur-Größen Lydia Lynch und Kim Gordon mit einer nach ihm benannten Band, was wiederum für einige Aufregung und neues Interesse an dem Mann sorgte, dessen Werk von Kritikern und Leserschaft letztlich so gut wie kaum wahrgenommen wurde. Für den bürgerlichen Geschmack tauchten da nichts als Freaks auf, Irre, Derangierte, Psychopathen, die am untersten Rand der Gesellschaft mehr zu krepieren schienen, als ein Leben zu führen. Sexistisch sollten Crews Texte sein, von Sex, Exzessen wie auch Gewalt überladen. Und da wir bislang vornehmlich in den Klischees und Labels waten, die Literatur und Literturschaffenden nur allzu gern angehängt werden, schrieb Crews nicht einfach nur keine Texte, denen das Bestsellerpotential fehlte, sondern er, der Redneck, der White Trash, schrieb Grit Lit, Southern Noir, Southern Gothic, wie auch immer man es ausdrücken wollte. Im finanzstarken, vermeintlich so liberalen, humanistischen Norden Amerikas gilt der Süden zuweilen immer noch als unanständig rückständig. Kaum jemand hat das wohl besser ausgedrückt als Flannery O’Connor, deren Zitat dem superben Nachwort von “Florida Forever” vorangestellt ist: “Alles, was aus dem Süden kommt, wird vom Leser aus dem Norden als grotesk empfunden, es sei denn, es ist wirklich grotesk, dann nennt er es realistisch.”
Ein Universum, kaputt wie die Welt
Doch was immer Crews nun für ein Kerl war, wie auch immer ihn seine Herkunft, seine Lebenserfahrungen prägten, zu wem auch immer ihn die Medien stilisierten, das nun im Metrolit Verlag herausgegebene “Florida Forever” beweist einmal mehr, dass Crews eine Menge zu erzählen hatte. Und das ebenso gradlinig, vermeintlich simpel wie hintersinnig, ebenso rüde wie ergreifend, ebenso grotesk wie realistisch. Der derb rohe Erzählstil, dessen Dialoge vor allem direkt dem Leben entsprungen scheinen, der auf das, was gemeinhin als Moral gilt, – mit Verlaub – scheißt, der vor kluger Komik nur so strotzt, eröffnet ein episches Miniaturuniversum, in dem trotz aller Kälte, allen Verlorenseins niemals das Gute gegen das Böse ausgespielt wird. Wie in einem schnellen, harten Schlagabtausch zwischen zwei Ebenbürtigen geht einer von beiden immer mal wieder zu Boden, um sich für die nächste Runde aufzuraffen. Das ist so elegant gemacht, dass der Zuschauer, resp. Leser am Ende kaum sagen können wird, welcher der Figuren er letztendlich Sympathie entgegenbringen kann oder absprechen will. Crews erschafft mit einem feinsinnigen Blick für die kleine Geste ein Universum, das so kaputt ist wie die Welt.
In “Florida Forever”, das im Original eigentlich treffender “Celebration” heißt, hat das im Trailerpark ‘Forever and Ever’, einer schäbigen Residenz für Senioren mit kleinem Geldbeutel, nur keiner bemerkt. Oder vielleicht hat es längst jeder gemerkt – lange schon, bevor er kam, bevor er sich am Rande des schwül-heißen Sumpfes zur vorletzten Ruhe niederließ. Doch schien es kein Rezept zu geben, kein Mittel, das dem tiefen Stumpfsinn des Lebens, des Alters Einhalt hätte gebieten können. Das ändert sich, als die 18-jährige Too Much auf der Durchreise in den Laden marschiert, den Armstumpf des Trailerpark-Besitzers Stump als ultimativen Ritt erkennt und sich entschließt zu bleiben. Nicht dass Stump, denn wegen seines Armstumpfes wird der 56-jährige Koreakrieg-Veteran so genannt, das nicht gewundert hätte. Bislang verstand er sein Leben im Allgemeinen als eher hoffnungslos höhepunktfrei, und seinen Armstumpf im Besonderen, – er amputierte sich die Hand nach einem schweren Unfall eigenhändig, – eher als abstoßende Deformierung.
Doch – Magie, Magie, – mit dem Einzug von Too Much verschieben sich die Perspektiven. Plötzlich ist Stumps Stumpf der Quell größter Sinneslust, was auch Stumps eigene Triebe ordentlich in Aufruhr versetzt. Schließlich ist Too Much, mal abgesehen von ihrem Tick, sich ständig und überaus ungebührlich an unguten Stellen zu kratzen, die Verführung schlechthin. Sie oszilliert zwischen einer kleinen Lolita, gerissenen Loulou sowie einer dämonischen Medusa, kurzum einer alles in sich verschlingenden Sexgöttin, deren Körper per se als das Sündige gilt. Und Too Much hat eine Idee. Sie möchte den Maifeiertag zelebrieren, das Fest der Lust schlechthin, und eigentlich scheint das nicht viel verlangt. Stump indes versteht ihr Anliegen nicht, und um die vielen alten Leute in ‘Forever and Ever’ ist es noch wesentlich schlechter bestellt. Im wahrsten Sinne des Wortes kommt hier keiner mehr aus den Puschen raus, und chronische Hüftsteifigkeit macht allen schwer zu schaffen. Too Much können so viel Desinteresse und Teilnahmslosigkeit jedoch nicht von ihrem Anliegen abbringen, sie kümmert sich um die unzähligen Alten, hört ihnen zu, widmet ihnen Aufmerksamkeit. Vor allem Johnson und Mabel Meechum sind ein harter Brocken, liegt doch nach sechzig Ehejahren jeder in seinem eigenen Schützengraben und bekriegt den anderen mit Hochgenuss. Das Leben im Rentnerpark ist generell gezeichnet von tragischen Auswüchsen, einer davon ist eventuell Johnson’s Leidenschaft, der Trieb, sein Verlangen mit seiner 22’er morgens in den Sumpf zu schießen, um das Monster endlich abzuknallen. Too Much hat Verständnis dafür, überhaupt hat sie für jeden Verständnis, öffnet ihm ihr Herz, ihr Ohr, das Blüschen und einiges mehr und verursacht damit größte Konfusion unter den Alten. Neben den zu bedauernden Alten, gibt es weiterhin die jämmerliche Gruppe der ‘Armen Alten’, die wie Zombies beschrieben werden. Willenlos hängen sie sich ohne jedes Zögern innig an Too Much. “Mein Name ist Too Much, verdammt. Und es gibt gute Gründe dafür, warum ich so heiße. Weil ich zu viel weiß, zu viel sehe, zu viel fühle und zu viel hasse, verdammt”, lässt sie ihre Mitmenschen wissen. Und so rüde wie ihr Tonfall klingen kann, ist immer wieder auch ihr Vorgehen. Weil die anderen den tieferen Sinn im Leben nicht kapieren, muss Too Much zu einigen drastischen Mitteln greifen, damit sich der Rest endlich von seiner Lethargie befreien kann.
Die Frau, ihr Körper ist ein einziges Versprechen, das sie jedem gern macht und auch hält, lässt sich auf ihrer Mission von nichts abhalten. Die Weise, die Sehende und Wissende verfolgt auf nicht leicht zu durchschauende Art ihr eigenes Projekt, das aus dem traurigen Trailer-Park, in dem der Tod des Nachbarn bislang als einzige Abwechslung galt, einen Jungbrunnen kreieren soll, der allen dionysischen Gelüsten wieder heiteren Fußes entgegentritt. Dass so viel harte Arbeit nicht ohne unschöne Auswüchse wie Prügel, Folter, Mord und Totschlag zu bewerkstelligen ist, scheint höchstens Stump nervös zu machen. Doch der ist geritten von seinem steten Sinnestaumel, den er im Zweifel bei Sexentzug nur mit kräftigen Dosen Whiskey im Zaum halten kann.
“Florida Forever” erzählt grandios und sinnlich vom Altwerden, auch wenn das nicht immer schön ist. Erzählt vom Tod und der Angst davor und all den sonderbaren Auswüchsen, die eine Gesellschaft prägen, die unbedingt an etwas festhalten will. Crews schreibt hier einen großartigen Roman, durch den existentialistisches Gedankengut in denkbar gröbster Manier wütet. Und so kann “Florida Forever”, das 1997 verfasst wurde, aber offensichtlich in den 70’er Jahren spielt, auch als eine böse Umschreibung der Hipster-Kultur mit ihrem Glauben an Jugend, Befreiung, Frieden, Glück und Sex gelesen werden. Und selbstverständlich lässt sich ein Harry Crews, der mit allen Klischees und allen Systemen barsch abrechnet, niemals auf etwas Simples festnageln. “Fortschritt nannten sie es, und der Fortschritt hatte nur einen einzigen Zweck zu erfüllen, nämlich dem anderen großen Unwort zu Diensten zu sein: der Zivilisation. Fortschritt und Zivilisation wurden zu einer unzerstörbaren Aufwärtsspirale zusammengefügt, die sich unaufhaltsam auf etwas zubewegte, was man das Gute Leben nannte, ebenfalls bekannt unter dem Namen ‘The American Way of Life’ oder einfach nur ‘The American Way’.” “Florida Forever” ist ein grotesker Roman in derbem Jargon verfasst, der das Dasein schlechthin in all seinen Facetten spiralförmig durchzieht und auffächert. Es ist ein Meisterstück, wie Crews hierbei seine Figuren und Antworten in einer nicht fassbaren, schillernden Vibration hält. Vielleicht ist es ja am Ende tatsächlich so, wie es einst de Sade formulierte: “Der Sexualtrieb ist der letzte wirklich persönliche Teil unserer Existenz.” Aber das ist vielleicht der größte Witz, den uns Crews da vorsetzt. Da er am Ende dann doch stimmen könnte …
Anna Veronica Wutschel
Harry Crews: Florida Forever. Roman. (Celebration. 1998). Aus dem Amerikanischen von Gunter Blank. Metrolit, Berlin 2015. 334 Seiten. 22,00 Euro.
Im kleinen, feinen Verlag Mox und Maritz sind von Harry Crews erschienen:
Der Fluch (The Gypsy’s Curse)
Nackig in Garden Hills (Naked in Garden Hills)
Scar Lover (Scar Lover).