Geschrieben am 5. September 2015 von für Bücher, Litmag

Roman: Stefano D’Arrigo: Horcynus Orca

darrigo_horcynus orcaEin singuläres literarisches Ereignis

Stefano D’Arrigos 1975 erschienenes Mammutwerk „Horcynus Orca“ gilt als einer der letzten großen unentdeckten Romane der Moderne und wird mit Joyce, Musil und Proust verglichen. Zu recht, findet Karsten Herrmann.

Lange Zeit galt das durch einen starken sizilianischen Dialekteinschlag geprägte Italienisch des Romans als nicht übersetzbar. Nun ist es Moshe Kahn nach achtjähriger Arbeit gelungen und das Ergebnis ist spektakulär.

D’Arrigos Roman ist geografisch an der mythenumwobenen Straße von Messina angesiedelt und spielt am Ende des Zweiten Weltkrieges. Von Neapel kommend erreicht der Held des Romans, der fahnenflüchtige Matrose Ndrja Cambria, den Landstrich zwischen Skylla und Charybdis: „Den ganzen Tag hatte das Meer sich zu großen gleichmäßigen Stille weiter geglättet“ und die Hitze schüttelte ihre „löwenmähniges Haupt“.

In diesem Landstrich sind die Feminotinnen beheimatet, die sich auf „männliche Art“ ihren Lebensunterhalt verdienen und auf ihren Booten Salz von Messina nach Kalabrien schmuggeln.

An die Fersen von Cambria haben sich vier herunter gekommene Heeressoldaten geheftet, die mit ihm auf eine Überfahrt nach Sizilien hoffen. Doch der Landstrich und seine Menschen sind vom Krieg verheert, alle Boote zerstört. Sinnbildlich gespiegelt wird dies durch das Massensterben der als Freren bezeichneten Delfine, deren Knochenhalden und Friedhöfe den Strand säumen. Die ganze Tragik und das ganze Leid des Krieges schießt im Todeskampf eines harpunierten Jungbullen zusammen.

„Horcynus Orca“ – der Titel spielt auf den „Mörderwal“ an, der gegen Ende des Romans noch eine wichtige Rolle spielen wird – ist ein Roman über das Meer, über Freren, Fischer, Feminotinnen und Faschisten. D’Arrigo schwelgt dabei in den Worten, in den ausufernden Beschreibungen der Landschaft, der Tiere und der Menschen, in kleinsten Nuancen, Verwandlungen und poetischen Phantasmagorien.

Seine Prosa ist einerseits durch eine mythisch-hymnische Dimension geprägt, aus der Sätze für die Ewigkeit wie der folgende hervorgehen: „Er wandte den Blick vom Meer ab, und da war es, als hätten seine Augen in diesem Blick all ihr Licht verbraucht.“ Andererseits ist D’Arriga aber auch ein Meister der Wortspiele, der lautmalerischen Worterfindung und Wortverwandlung sowie des Zotigen und Sinnlich-Obszönen.

Die eigentliche Handlung ist in diesem Roman absolut nachrangig und der Leser sieht sich ein wenig wie auf offenem Meer ausgesetzt: Unausweichlich muss er sich auf die unberechenbaren Wellenbewegungen, das Schäumen und Gischten, das Tosen und Plätschern der ihn umspülenden Worte einlassen und läuft durchaus Gefahr, darin zu versinken.

Als der Roman 1975 in Italien erschien, spaltete er die Literaturkritik. Die eine, progressivere Hälfte sah ihn als „epochemachenden Roman“ und Pier Paolo Pasolini nannte ihn „1257 Seiten reiner Poesie.“ Für die erste Übersetzung dieses Romans in eine andere Sprache ist Moshe Kahn, der selber lieber von einer „Nachgestaltung ins Deutsche“ spricht, höchster Respekt zu zollen. Ebenso wie dem S. Fischer-Verlag, der das Wagnis einer Veröffentlichung dieses aus allen herkömmlichen Kategorien herausfallenden opus magnums eines in Deutschland völlig unbekannten Autors auf sich nahm.

Das Wagnis hat sich gelohnt: Stefano D‘Arrigo ist ein Sprachmagier, ein halluzinativer Sprach-Derwisch und sein „Horcynus Orca“ ein singuläres und mit nichts zu vergleichendes Ereignis in der Literaturgeschichte. Daher ist der Roman ein Muss für jeden Literaturliebhaber.

Karsten Herrmann

Stefano D’Arrigo: Horcynus Orca (Horcynus Orca, 1975). Aus dem Italienischen und mit einem Nachwort von Moshe Kahn. Hardcover. S. Fischer 2015. 1472 Seiten. 58,00 Euro.

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