Literarisches Gift, das süchtig macht – Eine Studie über den Spannungsaufbau
– Buchstäblich bleibt einem die Luft weg bei der Lektüre von Marianne Gareis‘ deutscher Übersetzung von Samanta Schweblins Romandebüt „Das Gift“. Schlägt man das Buch mit dem knallrot verschwommen-organischen Titelbild erst einmal auf, so ist es praktisch unmöglich, es wieder wegzulegen, bevor es ausgelesen ist. Die Lektüre wird zur körperlichen Erfahrung, die Spannung überträgt sich direkt und ebenso erbarmungslos wie das titelgebende Gift. Kurz, die „Studie über den Spannungsaufbau“, wie es die Autorin treffend ausdrückt, ist mehr als gelungen. Von Christiane Quandt.
Aber der Reihe nach. Der Text ist praktisch durchgehend in Dialogform gehalten – die sterbende Amanda wird von dem Kind David gedrängt, ihre Erinnerung zu rekonstruieren. Immer wieder insistiert David, sie müsse sich auf „das Wichtige“ konzentrieren, worum der gesamte Text kreist. Dabei gehen zeitliche Ebenen ebenso durcheinander wie metaphorische und tatsächlich erlebte Szenen, die Weltwahrnehmung eines ‚besonderen‘ Kindes vermengt sich mit den Visionen einer Sterbenden. Es gelingt durch die Verflechtung unterschiedlicher Realitätsebenen ein bemerkenswerter Spannungsaufbau, der den Text, unter anderem, zum großartigen Thriller macht.
Ein dialogischer Roman zwischen vielen Ebenen
Amanda und ihre Tochter Nina sind in Urlaub auf dem Land, in der argentinische Pampa. Dort treffen sie auf Carla und ihren Sohn David. Es ist von Anfang an klar, dass mit David etwas nicht stimmt und dass Carla sehr dringend mit irgendjemandem darüber sprechen muss. Der Ort für dieses Gespräch ist Amandas Auto, wo sich Carla bei diversen Zigaretten ihre Geschichte von der Seele redet. Während dieser Erzählung – stets im Rückblick und im Dialog mit David – spannt und entspannt, spinnt und entspinnt sich der unsichtbare Faden des „Rettungsabstands“, dem der spanischsprachige Roman seinen Titel „Distancia de rescate“ verdankt. Dieser Faden zwischen Mutter und Kind, hier zwischen der Mutter Amanda und der Tochter Nina, wird permanent gespannt, verflochten, wieder entspannt und droht immer wieder zu reißen. Ebenso spannt und entspannt sich der Faden des Rettungsabstands zu David in Carlas Erzählung. Dieser reißt allerdings in dem Augenblick, als der zweijährige David, der irgendwie vergiftet wurde, nur durch eine „Transmigration“, die von der Heilerin am Ort durchgeführt wird, gerettet werden kann. Seit diesem Ereignis, das vier Jahre vor der Erzählzeit liegt, ist David nicht mehr ihr Kind, behauptet Carla.
Weiter erinnert sich Amanda, wie sie Carla mit Nina auf ihrer Ranch besucht – und irgendwo da muss sie sein, die entscheidende Stelle in der Erinnerung, die für David (und den Leser) so unglaublich wichtig ist. Der tote Zuchthengst scheint ein zentrales Puzzleteil, ebenso die Sojafelder, die Fässer, die von einem LKW auf die Ranch verladen werden, und diverse weitere verstorbene Tiere. Doch bleibt es dem Leser überlassen, diese Fäden miteinander zu verknüpfen und herauszufinden, warum nun auch Nina und letztlich auch Amanda krank werden. Immer wieder insistiert David und fordert Amanda auf, sich genau zu erinnern, denn mit den Seiten läuft auch die Zeit. Dabei verschwimmen auch immer mehr die Identitäten der beiden Kinder.
Auflösung?
Erst ganz zuletzt wird die Dialogsituation der ersten Ebene deutlich: David, eines von vielen körperlich und geistig beeinträchtigten Kindern des Dorfes lebt praktisch permanent in der örtlichen Krankenstation. Amanda befindet sich ebenfalls mit Vergiftungserscheinungen auf dieser Krankenstation – sie liegt im Sterben.
Zum Ende des Romans werden die beschriebenen Erinnerungsbilder immer düsterer und zugleich deutlicher. Parallel zu den immer deutlicheren Hinweisen verschlimmert sich Amandas Zustand und sie nähert sich ihrem eigenen Tod. Die Kinder, die in der Krankenstation leben beschreibt Amanda wie folgt:
„Es sind merkwürdige Kinder. Es sind, keine Ahnung, meine Augen brennen so. Kinder mit Missbildungen. Sie haben keine Wimpern und auch keine Augenbrauen, ihre Haut ist rot, sehr rot, und schuppig.“
Realer Hintergrund?
Diese entstellten Kinder stehen ganz konkret und unmetaphorisch für eine Situation, der in Argentinien viele Menschen hilflos ausgeliefert sind: der Agrarkonzern Monsanto kontrolliert den Anbau von Soja für den Weltmarkt. Zum Pflanzenschutz werden Pestizide und Herbizide wie das kürzlich auch für die europäische Agrarwirtschaft zugelassene Glyphosat eingesetzt, bei dem bis dato nicht endgültig geklärt ist, wie es sich auf die Gesundheit der Menschen tatsächlich auswirkt. Da viele Dörfer faktisch durch Monsanto regiert werden und ärztliche Einrichtungen wie Krankenstationen oder Notaufnahmen ebenfalls von dem Agrarriesen betrieben werden, muss offen bleiben, ob ein einfacher „Sonnenstich“ nicht vielleicht doch mit den Fässern von den LKWs zusammenhängt.
Ein Thriller auf verschiedenen Ebenen
Das Großartige an diesem Buch ist allerdings, dass man diese Geschichte nicht kennen muss, damit es funktioniert und einen mitreißt. Die beiden anderen Ebenen reichen völlig aus, um den Lesern das körperliche Vergnügen des grandiosen Spannungserlebnisses zu bescheren. Da ist zum einen die Geschichte der beiden Frauen, die sich begegnen und ihre unterschiedlichen Realitäten miteinander teilen. Da sind die Fäden, die sie mit ihren Kindern verbinden und die gespannt werden und reißen. Da sind die beiden Kinder der Frauen und da sind die entstellten Kinder des Dorfs, die für eine unheimliche Atmosphäre sorgen, wie sie gemeinsam mit der Krankenschwester über die Straße gehen. Da ist auch diese eindringliche Stimme Davids und die ersterbende Stimme Amandas, die dem Leser praktisch einen direkten Zugang zum Bewusstsein dieser Figuren ermöglichen und ihn dabei permanent aufs Glatteis führen. Die „Würmer“ vom Anfang des Romans entpuppen sich beispielsweise als kindliche Metapher für die Vergiftungserscheinungen, die an anderer Stelle als Sonnenstich behandelt werden.
Und zuletzt ist da eine übersinnliche Ebene, die auf die lateinamerikanische Tradition des Magischen Realismus referiert und somit zugleich magisch und real wird. Die Transmigration, die Übertragung der Seele des Kranken auf mehrere Körper, entfaltet ein Spiel der Identitäten, das erst ganz zum Schluss des Romans, unauffällig und wie nebenbei, entschlüsselt wird.
Fazit
Dieser Roman lohnt sich. Er lohnt sich nicht nur, weil es sich um einen großartigen Text einer großartigen Schriftstellerin der aktuellen argentinischen Literatur in großartiger Übersetzung handelt, sondern auch, weil er die Leser durch seine Vielschichtigkeit in verschiedene Richtungen lenkt und immer und immer wieder in die Irre führt. Der bemerkenswerte Spannungsaufbau wird körperlich spürbar und lässt einen beim Lesen regelrecht mitfiebern. Und nicht zuletzt bieten die vielschichtige Thematik mit ihrem Vorbild in der ruralen argentinischen Realität der Sojaplantagen einen Einstieg zum Nachdenken über die Auswirkungen der globalen Wirtschaft, die ihre Fäden in die entlegensten Winkel der Welt spannt und dabei nicht nur die Pferdezucht, sondern auch die Transmigration von Kinderseelen auf der Basis indigener und kreolischer Glaubenssysteme zu beeinflussen vermag.
Christiane Quandt
Samanta Schweblin: Das Gift. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Berlin: Suhrkamp, 2015. 127 Seiten. 16, 95 Euro. eBook 14,99 Euro.