Vom unbedingten Wollen
Das Motiv des Verschwindens ist kein neues in der Literatur und gerade in den letzten Jahren scheint es gerade jüngere Autorinnen und Autoren wieder verstärkt zu reizen. So beschreibt etwa Hannes Köhler in seinem Roman „In Spuren“, wie ein junger Mann langsam die Identität seines verschwundenen Freundes annimmt; Thomas Weiss lässt in „Flüchtige Bekannte“ einen Journalisten auf der Fährte einer verschwundenen Frau selbst verloren gehen. Katharina Hartwells neuer Roman hingegen beginnt damit, dass ein über lange Jahre vermisster Mann plötzlich wieder auftaucht. Von Frank Schorneck.
In Prag, der Stadt Kafkas mit ihren verwinkelten Gassen und dämonischen Skulpturen, begegnet Paul in einer Kellerbar plötzlich einem Mann, in dem er seinen Jugendfreund Felix wiederzuerkennen glaubt. Es ist nicht sein Aussehen, es sind vielmehr die Bewegungen, die kleinen Gesten, die Erinnerungen wecken – und ein Muttermal am Handgelenk. Doch der Mann verneint, er sei nicht Felix, der eines Tages vor zehn Jahren spurlos und ohne jegliche Vorwarnung verschwunden ist. Der Mann nennt sich Blixen und behauptet, vor Jahren bewusstlos und ohne Erinnerung aus dem Fluss gezogen worden zu sein. Für Paul ist der Fall klar, er will versuchen, Blixen/Felix die verlorene Erinnerung zurückzugeben. Er erzählt, wie er Felix in der Schulzeit kennenlernte, wie er, der zuhause keine Geborgenheit erfuhr, mit offenen Armen in die Familie des Freundes aufgenommen wurde, wie Felix‘ Mutter ihn wie einen eigenen Sohn behandelte. Wovon er nicht erzählt, ist „das Wollen“, sein unbändiger Drang, fremde Dinge an sich zu nehmen und besitzen zu müssen. Zwanghaft hat er selbst seine Freunde bestohlen, persönliche Gegenstände wie Haarspangen oder Federmäppchen entwendet. Er erzählt auch nicht von dem Kuss zwischen Felix‘ Schwester Louise und ihm – genauso wenig wie von jenem anderen Kuss, den er selbst aus seiner Erinnerung verbannt hat. Blixen bleibt erinnerungslos, hört geduldig zu, aber weist weit von sich, der Gesuchte zu sein.
Später taucht Blixen jedoch bei Paul in Berlin auf, um sich dort mit seinem vermeintlichen früheren Leben zu konfrontieren. Doch nichts fügt sich zusammen, vielmehr tun sich immer mehr Risse auf im verwandtschaftlich-freundschaftlichen Gefüge zwischen Paul und Louise. Blixen, in den beide zunächst große Hoffnung stecken, spielt geschickt Menschen gegeneinander aus, sät mit einfachen Bemerkungen Zwietracht und Misstrauen. Der Fremde, den Paul in seine Wohnung und sein Leben eingeladen hat, wird zu einer schleichenden Bedrohung. Blixen, der in Prag als Künstler Knochenskulpturen aus Gips fertigte, arbeitet nun in Deutschland an einem neuen Projekt, dem „Spinnenbaum“, einer Skulptur, die anzuwachsen scheint, ohne dass Paul und Louise Blixen jemals bei der Arbeit sähen. Und wie eine Spinne webt Blixen mit Worten und Taten heimtückisch klebrige Fäden, in denen sich die beiden immer tiefer verfangen.
Sicheren Gespür für Nuancen und unscheinbare Risse
Während Katharina Hartwells Debütroman „Das fremde Meer“ im wahrsten Sinne des Wortes in zahlreiche Erzählebenen ausuferte und den Leser in unbändigen Prosawogen umspülte, wirkt ihr zweiter Roman auf den ersten Blick stringenter, konventioneller. Doch dieser erste Schein trügt. Nach und nach schleichen sich phantastische, unheimliche Elemente in die Geschichte ein, eine unangenehme, bedrohliche Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens und diffuser Bedrohung kommt auf und weckt Erinnerungen an Ira Levins „Rosemarys Baby“. Mitunter weht ein Hauch „Friedhof der Kuscheltiere“ durch den Roman, doch Katharina Hartwell öffnet die Tür ins Phantastische stets nur einen Spalt, lässt die Möglichkeit offen, dass ihre Protagonisten sich in irrationale Gedankengänge verrennen und die Phantasie mit ihnen durchgeht. So steht letztlich die Figur Felix/Blixen nur scheinbar im Mittelpunkt der Geschichte. Vielmehr beleuchtet Hartwell das fragile Gefüge von Freundschaft und Familie, von Lebensentwürfen und Lebenslügen. Insbesondere Paul, dessen kleptomanische Anflüge sich nicht auf Gegenstände beschränken, sondern der auch Menschen mit aller Macht für sich gewinnen will, sieht seine Wesenszüge auf unheimliche Weise in Blixen widergespiegelt. Nicht umsonst spielt Katharina Hartwell im Romantitel auf die Bibel an: Paul erfährt seine höchstpersönliche Offenbarung, über seine Vergangenheit wird Gericht gehalten.
Katharina Hartwell überzeugt mit atmosphärisch dichter Sprache und einem sicheren Gespür für kleine zwischenmenschliche Nuancen und unscheinbare Risse, die sich zu Abgründen auftun können. Waren in ihrem Debüt das Wasser und das Meer zentrale Motive, so sind es hier die Knochen, die dem Leser stets wiederkehrend begegnen: in kleinen Schmuckstücken aus „Wish-Bones“ bis zur Knochenkirche von Kutna Hora bei Prag. „Knochen sind wie eine Rüstung“, sagt Blixen zu Paul, „Sie stützen einen, schützen das Innerste, das Herz liegt hinter den Rippen wie in einem Käfig. Gleichzeitig sind sie wie ein Geheimnis, das man unter der Haut trägt. Etwas, das Schaden nehmen und brechen kann.“ Blixen wirft die Frage auf, ob die menschliche Seele in seinen Knochen steckt – und er weiß sehr genau, wo sich die Sollbruchstellen befinden.
Frank Schorneck
Katharina Hartwell: Der Dieb in der Nacht. Roman. Berlin Verlag, 2015. 320 Seiten. 20,00 Euro.