Geschrieben am 15. Juni 2017 von für Bücher, Crimemag

Roman: Johannes Groschupf: Lost Boy

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Der Sound von Terror

Tödliche Akustik – manche Leute geraten in Ekstase, andere fallen tot um. Harmlos und unschuldig ist gar nichts. Johannes Groschupf hat mit seinem Thriller „Lost Boy“ einen sehr originellen und überzeugenden Großstadt-Roman geschrieben, der große Aufmerksamkeit verdient. Eine Rezension von Thomas Wörtche.

Labels und Rubriken richten oft Unfug an. Vor allem die Bezeichnungen „Jugendroman“ oder „Young Adult“ neigen dazu, Publikumsgruppen abzugrenzen. Und so rutscht dann ein grandioser Großstadtroman wie Johannes Groschupfs „Lost Boy“   durch die erwachsene Wahrnehmung. Das ist fatal, denn „Lost Boy“ ist ein durch und durch seriöser City Noir, für den diese Bezeichnung wirklich zutrifft.

Lennart ist der akustische Biograph seiner Selbst. Er sammelt Sounds, je bizarrer oder je banaler, desto besser und, paradox, desto signifikanter. Er ist ein Audiotüftler und Spezialist für Sick Sounds (was er mit einem elektrischen Zahnbohrer macht, lässt den „Marathon Man“  kuschelig erscheinen, gar nichts ist safe)  arbeitet einem DJ zu – berühmt und berüchtigt als DJ Evil –, der mit seinen krassen Raves Kultstatus hat, weil sie an den unmöglichsten, meist unterirdischen Locations stattfinden, die Berlin zu bieten hat – vergessene U-Bahn-Gewölbe, industrielles Ödland, geborstene Fabriken und andere städtische Orte, die zwar arm, aber nur in einem ziemlich abgefahrenen Sinne sexy sind. Und weil er mit Weird Sounds existentielle Erschütterungen auslösen können – das Berghain ist eine Schülerdisko dagegen.

Lennart akustische Vermessungen der Stadt – Alltagsgeräusche und nervensägender Lärm – werden von DJ Evil zu Terror-Sounds entwickelt, die physische Schäden anrichten können. Und mehr noch: die Leute umbringen. Als er dann noch mit dubiosen Kreisen aus der Rüstungsindustrie und den „Sicherheitskräften“ Geschäfte machen will, die an robusten akustischen Terror-Möglichkeiten interessiert sind,  steigt Lennart aus. Das gefällt DJ Evil überhaupt nicht, die Angelegenheit wird richtig hässlich. 

Aber zunächst einmal wacht Lennart mit einer veritablen Amnesie auf dem Hamburger Hauptbahnhof auf. Sein Versuch, die Ereignisse zu rekonstruieren, bildet das narrative Skelett des Romans. Das ist sehr geschickt gemacht, den Lennart nähert sich seiner Stadt Berlin sozusagen mit dem fremden Blick – und der fremde Blick auf anscheinend Vertrautes gehört zu den großen epistemologischen Leistungen von Literatur. Eine Autofahrt aus Hamburg kommend, über die Heerstraße nach Berlin hinein, ist eine der vielen, packenden Passagen, die Berlin zu einem bisher unbekannten Territorium machen, auch wenn man dieselbe Strecke zur selben Zeit schon hundertmal selbst durchfahren hat oder auch die anderen Locations kennt.

Durch die Nacht …

Entlang seines robusten Plots, bietet Groschupfs Roman  in blendender, eleganter Prosa ein ungewöhnliches Berlin Panorama: Eine verborgene, oft leere Nachtstadt, mit klandestinem Leben underground. Gespickt mit schrillen Sounds, schweren Grooves, Drogen und zombiehaft agierenden Menschen, mit Obdachlosen-Communities in verlassenen Möbelhäuser (eine meisterhafte Miniatur unter vielen, ist die Beschreibung des sozialen Terrors in der Küchenabteilung eines solchen Möbelhauses, als es noch funktionierte), fast leeren Nachbusse mit Hopper´schen Gestalten und Stadtbrachen.

“Eine steinerne Wüste“, hier und jetzt und ganz real, obwohl sie oft an eine Postdoomsday-Landschaft erinnert. Kalte, in fahles Licht getauchtes, oder durch Stroboskop-Gewitter zerhackte Bilder, die sich ins Hirn fressen. Kombiniert mit diabolisch strukturiertem Lärm. Man kann das „Synästhesie“ nennen. Oder einen Beitrag zur Ästhetik von Gewalt.

Nicht nur ein exzellenter Kriminalroman, sondern auch ein gewichtiger Berlin-Roman.

Thomas Wörtche

Johannes Groschupf. Lost Boy. Roman. Oetinger 2017, 240 Seiten, 12,99 Euro

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