Geschrieben am 5. September 2015 von für Bücher, Litmag

Roman: Irvine Welsh: Das Sexleben siamesischer Zwillinge

Welsh_SexlebenScottish Psycho

In den Niederungen der High- und Lowlands geht das Leben einen geruhsamen Gang – zumindest, wenn man den Versprechungen der Tourismusindustrie Glauben schenkt. Die Literatur hat die Werbung jedoch schon längst Lügen gestraft – spätestens seit Irving Welsh mit seinem Erstlingswerk „Trainspotting“ einen unappetitlichen Blick hinter die heile Welt der Schafzüchter und Whiskybrenner geworfen hat. Von Frank Schorneck.

Und so weist dann auch der Cover-Hinweis „Der Autor von ‚Trainspotting‘“ auf Welshs über zwanzig Jahre zurückliegenden Debütroman, der nicht zuletzt durch Danny Boyles Verfilmung zu einem Bestseller wurde. Durch den Kult um Trainspotting wird – zumindest im deutschsprachigen Raum – gerne übersehen, dass der Schotte in den darauf folgenden sieben Romanen und diversen Erzählbänden auf durchaus vergleichbarem Niveau weiter gearbeitet hat. Alkohol, Drogen, Fußball, Sex, Gewalt und die Trostlosigkeit schottischer Sozialbausiedlungen prägen sein Werk. Mit seinem neuen Roman wendet er sich ab von Edinburgh, von Dreck und Verwahrlosung: Er führt uns nach Miami Beach, in die Welt des durchgestylten Körperkults, der Fitnessstudios und des Kalorienzählens.

Im Leben der Fitnesstrainerin Lucy Brennan dreht sich alles um Zahlen. Nein, sie ist kein Mathegenie, aber sie kann mit einem Blick den BMI eines Menschen schätzen, weiß, mit welchen Übungen wieviel Fett verbrannt wird. Und um wirklich vollständige Kontrolle zu haben, nutzt sie die entsprechenden Apps ihres iPhones. Ihre Kampfsporterfahrung hilft ihr, zwei jungen Männern das Leben zu retten, indem sie einen Amokläufer per Frontkick ausschaltet. Noch während sie auf dem entwaffneten Mann kniet, lernt sie die schwer übergewichtige Lena Sorenson kennen. Diese hat den kurzen Kampf mit dem Handy gefilmt und spielt den Film einem Fernsehsender zu. Die plötzliche Berühmtheit bringt Lucy einige neue Kunden und das Angebot für eine eigene TV-Show. Und auch Lena Sorenson reiht sich ein in ihren Kundenstamm. Alles könnte zum Besten laufen für Lucy, würd sich nicht herausstellen, dass die beiden Männer, denen sie beherzt das Leben gerettet hat, pädophile Gewalttäter sind. Durch eine unbedachte Äußerung vor der Kamera gerät Lucy in die Mühlen einer politischen Wahlkampfdiskussion um Todesstrafe und Selbstjustiz. Die kontrollsüchtige Fitnesstrainerin verliert zunehmend die Kontrolle über ihr Handeln.

Welsh erzählt die Geschichte wechselweise aus der Ich-Perspektive Lucys und der Lenas. Der erste Teil des Romans gehört allerdings der Fitnesstrainerin. Aus ihrer egozentrischen und narzisstischen Sicht blickt sie auf die sie umgebende Welt. Lucy ist über weite Strecken keine Sympathieträgerin. Ihre Fixierung auf Äußerlichkeiten, auf Mode und die richtigen Drinks erinnert zuweilen an Norman Bateman, ein Eindruck, der sich angesichts der nicht gerade zimperlichen Sexszenen verstärkt. Doch Welsh treibt den Zynismus und die Gewaltspirale bei weitem nicht so auf die Spitze wie Bret Easton Ellis.

Vor allem liefert Welsh nahezu lückenlos Motive für jegliches Handeln seiner Figuren, und beraubt sie so ihrer Geheimnisse. Dies gilt auch für Lena Sorenson, die Künstlerin, die mit Tierpräparaten arbeitet und wahl- und zügellos Junkfood in sich hineinfrisst. Lucy konfrontiert sie mit den Dämonen ihrer Vergangenheit, übertritt in ihrem Bekehrungswahn allerdings jegliche Grenzen, als sie Lena entführt und einem sadistisch anmutenden Workout aussetzt. Die wechselnden Machtverhältnisse zwischen den beiden Frauen sorgen für ein gutes Maß an Spannung, doch Welsh fehlt es letzten Endes am Willen, die Eskalation konsequent weiter zu erzählen. So klingt atmosphärisch Stephen Kings „Misery“ leicht an, doch zum Ende löst sich die Spannung zu billig auf. Die expliziten Sex-Szenen sind zum Teil sogar ärgerlich.

Gelungen ist der Roman in den Passagen, die den Fitnesskult aufs Korn nehmen. Hier gelingt es Welsh, in einem Zug die schwabbelige Behäbigkeit des typischen Couch-Potatoes Lena zu beschreiben und gleichzeitig durch die Einnahme von Lucys Perspektive deren Obsessivität hervorzukehren. Aus dieser Rolle heraus schreibt er böse und selbstgefällig, der spätere Perspektivenwechsel nimmt dem Roman einiges an Energie.

Frank Schorneck

Irvine Welsh: Das Sexleben siamesischer Zwillinge (The Sex Lives of Siamese Twins, 2015). Aus dem Englischen von Stephan Glietsch. Heyne Hardcore 2015. 448 Seiten. 21,99 Euro.

Tags :