Wahnsinn und Betrug
Mit „Blau ist die Nacht“ ist der abschließende Teil von Eoin McNamees „Blue“-Trilogie nun in deutscher Übersetzung erschienen. Sonja Hartl hat dazu eine Phantasie. Wie immer, kommt die aber erst ganz am Schluss.
Der wahre Fall der Ermordung einer 19-jährigen Frau steht im Mittelpunkt von Eoin McNamees drei Büchern, die alle „blue“ im Originaltitel haben. Am 12. November 1952 wird die 19-jährige Patrica Curran – Tochter des Richters Lancelot Curran – tot in der Auffahrt zu ihrem Elternhaus im County Antrim aufgefunden. Auf sie wurde 37-mal eingestochen. Als Mörder wurde auf der Grundlage eines erzwungenen und später widerrufenen Geständnisses und eines fehlenden Alibis trotz offensichtlicher Widersprüche Iain Hay Gordon verurteilt. Das Urteil wurde 2000 schließlich aufgehoben. In dem ersten Teil „Blue Tango“ widmet sich Eoin McNamee den Zweifeln und Vertuschungsversuchen von Polizisten in diesem Fall, den offensichtlichen Fragen, die sich allein aufgrund der Familie ergeben: der Vater hat Spielschulden, die Mutter scheint wahnsinnig, der Sohn einer evangelikalen Wahrheitslehre verfallen. Im zweiten Teil „The Orchid Blue“ (dt. „Requiem“, dtv) verbindet er den Mord an Patricia mit der Ermordung der 19-jährigen Pearl Gamble, die neun Jahre nach Patricia Curran erstochen in der Nähe ihrer kleinen Heimatstadt aufgefunden wurde. Als Täter gilt in diesem Ort sehr schnell Robert McGladdery, der zum Tode verurteilt wird – von Patricias Vater Richter Lancelot Curran, der den Vorsitz in dem Gerichtsprozess hatte.
Mit „Blau ist die Nacht“ schließt sich nun der Kreis zumindest in der Literatur. Auf der ersten Handlungsebene wird im Jahr 1949 die Ermordung von Mary McGowan verhandelt, die in ihrem Haus überfallen und stranguliert wurde. Als Täter wird Robert Taylor verdächtigt, der einige Wochen zuvor Malerarbeiten in ihrem Haus verrichtet hat. Die Beweise sind erdrückend: er wurde zur Tatzeit von Nachbarn gesehen. Mary McGowan hat nach der Tat noch zwei Tage gelebt und mehrfach „Robert, den Maler“ als Täter bezeichnet. Er hat kein Alibi, verstrickt sich in Widersprüche und seine Kleidung ist voller Blutflecke, die er nicht erklären kann. Dennoch wird er nicht verurteilt: Zu dieser Zeit kann kein Protestant für die Ermordung einer Katholikin bestraft werden. Es würde zu gesellschaftlichen Unruhen kommen, deren Folgen nicht abzusehen sind. Patricias Vater ist zu dieser noch Staatsanwalt und er scheut dieses Risiko nicht, deshalb setzt er seine eigene Karriere aufs Spiel und strebt einen Schuldspruch an – weniger aufgrund eines Wunsches nach Gerechtigkeit als zum Beweis seiner eigenen Überlegenheit. Aber Harry Ferguson, Currans Verbündeter und Hintermann, weiß, dass ein Schuldspruch zu Aufständen führen wird, die der Karriere von Lancelot Curran irreparabel schaden werden. Also will Ferguson Curran vor seiner eigenen Überheblichkeit bewahren – egal, wie schuldig Taylor ist – und besticht den Jury-Vorsitzenden, knüpft Intrigen und hilft der Verteidigung.
Hinzu kommt ein zweiter Handlungsstrang im Jahr 1961, in dem Ferguson versucht, den Mordfall an Patricia Curran aufzuklären. Patricia hatte 1949 großen Anteil an dem Prozess gegen Robert Taylor genommen, sie saß während der Verhandlungen regelmäßig neben Harry und er hat eine romantisch-erotische Idee von ihr entwickelt. Angetrieben von Schuldgefühlen wegen seiner damaligen Einflussnahme und getrieben von dem Verdacht, dass der falsche Mann für Patricias Tod bestraft wurde, will er nun herausfinden, wer Patricia ermordet hat. Also besucht er Currans labile Ehefrau Doris, die seit dem Mord in der psychiatrischen Anstalt Hollywell lebt. Ferguson ist überzeugt, dass die Curran-Familie mehr weiß, als sie zugibt – nur so würde sich ihr merkwürdiges Verhalten erklären: sie haben die schon steife Leiche ins Krankenhaus gebracht und sich geweigert, als ihr Haus durchsucht werden sollte – und er erhofft sich, dass Doris ihm etwas sagen könnte, vielleicht sogar etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu tun hat, die zu lebendig, zu freizügig, zu offen für ihren Geschmack war.
Somit reihen sich weitere Verdächtige für den Mord an Patricia auf: ihre Mutter, Robert Taylor, Ferguson womöglich oder gar ihr Vater. Aber es bleibt bei Möglichkeiten, denn McNamee spekuliert nicht, sondern „Blau ist die Nacht“ ist ein Buch über die Geister, die eine Gesellschaft beherrschen. Es sind die Schatten der Toten, die hier vieles bestimmen: Patricia in erster Linie, aber Doris spricht wiederholt von Thomas Cutbush, der im Verdacht steht, Jack the Ripper zu sein, und in Broadmoor war, der Nervenheilanstalt, die ihr Vater leitete und in der sie aufwuchs. Dann gibt es noch Lucy aus Broadmoor, die verschwunden, aber nicht wirklich weg ist. Und natürlich die Schatten, die jeden Tag in Nordirland in diesen Jahren hinzugekommen sind.
Nicht mit dem Hammer, sondern subtil und unauffällig
„Blau ist die Nacht“ ist kein konventioneller Kriminalroman, der sich nicht einfach unter den griffigen generischen Begriff „Irish Noir“ packen lässt, obwohl es weder ein Happy End noch Hoffnung auf eine Auflehnung gegen das Schicksal gibt. McNamee erzählt von einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft, er wird angetrieben von dem Zorn eines James Ellroys, aber im Gegensatz zum weitaus bekannteren Amerikaner hämmert er den Lesern keine Sätze um die Ohren, sondern geht weitaus subtiler und unauffälliger vor. Er reichert diese historischen Kriminalfälle mit Fiktionen an und zeigt, wie sich Vertuschung, Gerüchte und Korruption auswirken.
Vielleicht wird Eoin McNamee mit „Blau ist die Nacht“ hierzulande ein wenig bekannter als er ist. In Irland hat er mit diesem Buch immerhin den Preis für die Irish Novel of the Year gewonnen – wohlgemerkt eine Auszeichnung für einen Roman. Man stelle sich mal vor, hierzulande würde ein Kriminalroman, noch dazu basierend auf einem wahren Fall, den Deutschen Buchpreis gewinnen …
Sonja Hartl
Eoin McNamee: Blau ist die Nacht (Blue is the Night; 2014). Übersetzt von Gregor Runge. dtv, München 2016. 272 Seiten.
Verlagsinformationen hier.
ders.: Requiem (Orchid Blue, 2011). Übersetzt von Hansjörg Schertenleib. dtv 2012. 340 Seiten.
ders.: Blue Tango (The Blue Tango, 2001). Übersetzt von Hansjörg Schertenleib. Berlin Verlag 2005. 304 Seiten.