Zwiespältig
Dana Grigorcea: „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ überzeugt den gesamten Literaturbetrieb. Doch warum eigentlich? Von Andreas Pittler
Zugegeben, der Plot des Romans hat etwas. Victoria, Rumänin von Geburt, aber seit langem schon im Westen lebend, arbeitet in einer Bank. Just die wird überfallen. Um dieses traumatische Erlebnis verarbeiten zu können, wird Victoria beurlaubt und nutzt die Gelegenheit, sich im (einstmals) heimatlichen Bukarest auf Spurensuche zu begeben. Dabei erkundet sie nicht nur die Szenerie ihrer Kindheit, sondern observiert auch die Stadt, wie sie sich heute präsentiert, wobei sie einzelnen Protagonisten begegnet, die bei Victoria Erinnerungen und/oder Assoziationen erwecken. Und die Geschichte endet damit, dass Victoria mit ihrem Freund in einem Cabrio durch die Gegend fährt und der ihr einen Heiratsantrag macht.
So komme hier „alles zusammen, was gute Literatur ausmacht: Witz, Komik, Tragödie, Poesie, Melancholie, Trauer, Elend, Liebe“, urteilt die „Neue Zürcher“, und sie steht damit nicht alleine da. Auch die FAZ, die „Süddeutsche“, der „Tages-Anzeiger“ und alles, was so Rang und Namen hat in der Welt der veröffentlichten Meinung überschlägt sich vor Begeisterung. Kein Wunder also, dass Grigorcea den Bachmann-Preis bekam, für den „Schweizer Buchpreis“ nominiert ist und sich auch sonst zahlreicher Ehrungen und Auszeichnungen erfreuen kann.
Liest man allerdings die rund 260 Seiten des Romans, so ertappt man sich irgendwann bei der Frage, ob man vollständig sein Urteilsvermögen verloren hat, weil man in diese kollektive Begeisterung nicht einzufallen vermag. Sicher, man merkt, dass dieser Text von einem Profi verfasst wurde. Da passt jedes Wort, ist beinahe jede Formulierung wohl abgewogen und in sich stimmig, da werden die Register zur richtigen Zeit gezogen, und insgesamt ist das Buch mit Sorgfalt und Bedacht durchkomponiert.
Aber macht das allein schon gute Literatur aus? Geht es nicht auch um die Geschichte, die in einem Buch erzählt wird? Um die Haltung, die vermittelt wird? Um Werte, wenn man so will? Schon klar, das sind Fragen, um die sich der Literaturbetrieb von heute nur allzu gerne drückt. In Zeiten, in denen gefühlt alle zwei Tage der Untergang des gedruckten Buches für die nächste Zukunft prognostiziert wird, behält man gern die Übersicht. Da darf der pseudo-elektrisierende Sex-Schmonzes die Bestsellerlisten anführen, der Ratgeber für alle Lebenslagen das Nachtkästchen schmücken und der Nullachtfuffzehn-Krimi in all seinen Formen den Weg von und zur Arbeit verkürzen. Und über all diese, letztlich ökonomisch überaus einträglichen, Printerzeugnisse dürfen weite Teile des Feuilletons nach Herzenslust die Nase rümpfen, während es dann jene Bücher, denen es Tiefe und Qualität attestiert, als die wahre Literatur anpreist.
Das geschieht oft und gern mit AutorInnen aus dem „ehemaligen“ Osten. Die werten Damen und Herren von Jurys und Rezensionsseiten haben meist herzlich wenig Ahnung von dieser Region, verstehen in der Regel nicht einmal zehn Worte der jeweiligen Sprache, doch sie haben gelernt, dass es zur erforderlichen Weltoffenheit von heute gehört, zu sagen, „ah, Rumänien, ja!“
Grigorcea hat das Metier von der Pike auf gelernt. Sie studierte in Bukarest Deutsch, dann in Krems an der Donau Journalismus. Sie arbeitete in allen Bereichen der Massenmedien, erst bei einer Tageszeitung, dann beim Radio und schließlich für das Fernsehen. Kein Wunder also, dass sie haargenau weiß, wie der journalistische Hase läuft und wie man „den Markt“ bedienen muss, um größtmöglichen Erfolg zu erzielen.
Und dazu gehört wohl auch, eine Stadt wie Bukarest so zu beschreiben, dass man nirgendwo aneckt und sich niemand bei der Lektüre überfordert oder abgestoßen fühlt. Daher kommt in der Schilderung der Stadt natürlich Ceausescu vor, so ziemlich der einzige rumänische Politiker, den auch wirklich jeder kennt. Und dass in Bukarest die Straßen seit 1940 bis zu sieben Mal umbenannt wurden, vermag zu amüsieren. Und ein vom Palast am ehemaligen Boulevard des Sozialismus winkender Michael Jackson verleiht dem Ganzen dann auch noch eine burleske Note.
Aber was erfährt man nach der Lektüre wirklich über Bukarest? Eigentlich nichts. Wo sind die Menschen, die von zehn Prozent des deutschen Durchschnittslohns leben und im Supermarkt hundert Prozent des deutschen Durchschnittspreises berappen müssen? Wo sind die Omas und Opas, die auf die Enkel aufpassen müssen, weil die Eltern irgendwo im Westen in niedrigen Jobs arbeiten, um die Familie daheim mit den Geldsendungen über Wasser zu halten?
Klar, so etwas will niemand lesen. Das wäre ja deprimierend und vereinte keineswegs „Witz, Komik und Poesie“. Und natürlich weiß das Grigorcea auch. Sie hat sich dazu entschieden, dem satten Publikum der literarischen Dekadenz ein Lied vorzutragen, das dessen Aufnahmefähigkeit nicht übersteigt und es bei Laune hält. Und das hat sich ausgezahlt. In jeder Hinsicht. Und es sei der Autorin auch gegönnt.
Über Rumänien, über das Bukarest von einst und jetzt, sagt das Buch jedoch herzlich wenig aus. Ebenso wenig über echte Gefühle, über Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste. Über das wahre Leben eben erfahren wir nichts. Mit Absicht, wie zu vermuten ist. Denn wäre das Buch anders, müssten einige der Damen und Herren von der Bachmann-Jury, von den Qualitätszeitungen und von den Literaturabteilungen der staatlichen Instanzen mit einem Mal in die Abgründe unseres Gesellschaftssystems blicken und zur Kenntnis nehmen, wie bröckelnd die Fassaden sind, hinter denen sie selbst sich verschanzen.
Grigorcea selbst braucht das nicht zu kümmern. Sie hat ein gefälliges Stück Literatur abgeliefert, das genügend Stoff hergibt, um bei einem Latte Macchiato eine geistreiche Bemerkung darüber zu machen. Und es soll ja genug Menschen geben, die einen solchen Kaffee gerne zu sich nehmen.
Andreas Pittler
Dana Grigorcea: Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit. Dörlemann-Verlag, Zürich 2015. 263 Seiten. 22,00 Euro.