Geschrieben am 5. September 2015 von für Bücher, Litmag

Roman: Andreas Maier: Der Ort

Maier_Der OrtAndreas und Katja und das Ganze Wahre

Der Ort, an dem ich den Autor Andreas Maier kennen lernte, ist die Wiener Literaturzeitung „VOLLTEXT“, die Zeit ist „Neulich“, denn so heißt Maiers Kolumne. Sie gefiel mir so gut, dass ich die Zeitung sofort abonnierte, das war 2011. In den Jahren zuvor hatte er wohl auch oft von seinem Onkel J. erzählt, weshalb der Kolumnensammelband, 2010 bei Suhrkamp erschienen, „Onkel J.“ heißt und zusätzlich noch „Heimatkunde“. Die Heimat ist die Wetterau, eine Gegend, die außerhalb der Wetterau niemand kennt. Von Gisela Trahms.

Zwischen den Kolumnen verfasst Maier Romane. Nicht nur diesen oder jenen, sondern eine Folge. Elf Bände sollen es werden und die Titel weisen auf den erzählten Raum, von minimal bis unendlich (wenn ich es richtig verstehe), also von „Das Zimmer“ und „Das Haus“ über „Die Straße“ bis „Das Universum“ oder „Die Wolken“ oder wie auch immer. In diesen Räumen spielt sich die chronologisch erzählte Lebensgeschichte des Protagonisten ab, der Andreas Maier heißt. „Der Ort“ ist der vierte Band und macht uns mit der Pubertät in der Wetterau bekannt. Auch wer noch nie dort war, kann sich leicht in den jungen Andreas einfühlen, besonders natürlich diejenigen, die wie er in den Achtzigern ungefähr fünfzehn waren. Es ist aber nicht so, dass dauernd Musik- und Filmtitel fürs Epochengefühl genannt werden und wer‘s nicht kennt, steht draußen. Es geht auch nicht um den pubertätsüblichen Dauerkrach mit den Eltern – hier halten sich Mutter und Vater nur als Schatten im Hintergrund auf, liefern Taschengeld und lassen ihren Andreas einfach machen was er will. Er bringt ja gute Noten nach Hause und ist immer vorne weg und beliebt bei allen, ganz im Gegensatz zu anderen Pubertätsromanen, die von Einsamkeit handeln, von Outsidertum und bedrückender Enge. Eng ist hier eigentlich nichts, kein Widerstand, keine blauen Flecken, nirgends, die Lehrer zum Beispiel sind machtlos und zur Schule geht man nur, um sich auszuruhen. Ungestört kann Andreas aus den Kindersachen herauswachsen und sich allmählich fremder werden, er kann morgens nackt auf dem Schreibtisch sitzen und der Sonne beim Aufgehen zusehen, abends trinken und Gruppenriten einüben und auch mal Salatköpfe umhertragen, um sie auf Politiker zu werfen, was dann leider doch nichts wird, während er ganz allmählich den Mädels näher kommt.

Was Maier vorschwebte bei der Romanverfertigung, hat er schon in der Kolumne „Neulich war ich im Forsthaus Winterstein“ beschrieben, die nicht nur vom Ort handelt, sondern auch von der Zeit, und da die Sätze so lang sind, denkt man natürlich gleich an Prousts Überroman, und auch inhaltlich passt, was Maier schreibt, auf Proust (bis auf das, was getrunken wird natürlich, das würde bei Proust niemand trinken):

„So hängt alles wie immer untrennbar mit allem zusammen, wie ein einziger Ort, der nicht umgangen werden kann, wie etwas Unumgehbares, obgleich sie doch Friedberg und Bad Nauheim und die ganze Wetterau inzwischen umgehen wollen mit ihren Ortsumgehungsstraßen, in die sie langsam alles verwandeln, bis nichts mehr übriggeblieben ist, als müsse man alles tilgen, als müsse alles umgangen werden wie ein Problem, obgleich doch nichts voneinander zu trennen ist, weil nur alles zusammen wahr ist und nichts ohne das andere, und so betrat ich das Forsthaus Winterstein als den Ort, an dem noch alles da ist, und auch, was an diesem Ort nicht da ist, ist an ihm da, eben weil es nicht da ist, weil es dort noch gar nicht angekommen ist oder immer von ihm ferngehalten wurde, aus welchen Gründen auch immer, und das erste, was ich tat, war einen Dornkaat zu trinken, und er war fürchterlich, wie immer.“

Der zarte Schwindel, den solche Sätze hervorrufen, ist ein spezieller Genuss, seinetwegen wird auch Thomas Bernhard geliebt, der seiner Kindheit und Jugend immerhin fünf Bände widmete, worin aber eine ganz andere Stimmung herrscht, die nackte Wut nämlich, immer die Wut. In der Wetterau gibt’s die auch, aber es gibt auch die schönen Sommernächte und das Anhimmeln der Mädchen und das Begehrt- und Berührtwerden durch erfahrene Frauen und die Bücher, ja, auch die Bücher. Vor allem aber gibt’s das Erwachen des Ortssinns, die Augen gehen auf und nehmen wahr, wie Friedberg und die Wetterau beschaffen sind, und hier könnte jetzt eine lange Aufzählung dessen folgen, was sie sehen, aber im Buch steht ja schon alles und diese Beschreibungen las ich am liebsten. Manchmal gerät der erzählende Andreas rückblickend ins Kommentieren, das fand ich dann nicht so schön, und auch hier könnte eine Aufzählung folgen, etwa dass die Salat-Episode zu lang ist und doch ein bisschen dünn, aber das schenk ich mir.

Seit einiger Zeit hat ja jeder Verlag ein Blog, bei Suhrkamp heißt es „Logbuch“, und darin beschreibt Maier jeden Monat einmal, wie es ist, ohne Udo Jürgens zu leben. Das sind ausführliche und gelehrte Beiträge, Interpretationen Jürgensscher Liedtexte zum Beispiel. Die „Neulich“–Kolumne hat einen ganz anderen Ton, sie erscheint immer noch im „VOLLTEXT“ (vier Nummern im Jahr, preiswert) und ich erwarte sie mit Ungeduld. In der letzten erzählte Maier, dass er geheiratet hat (Schock!) und nach Hamburg gezogen ist. Das ist ja nun ziemlich weit weg von der Wetterau und man kann nur hoffen, dass Band 7 und 8 nicht „Das Wasser“ und „Der Hafen“ heißen. Friedberg, Andreas! Ockstadt! Festes Land! Das meine ich ernst.

Gisela Trahms

Andreas Maier: Der Ort. Roman. Gebunden. Suhrkamp 2015. 154 Seiten. 17,95 Euro.

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