Geschrieben am 17. April 2006 von für Bücher, Litmag

Roddy Doyle: Jazztime & Henry der Held

Der smarte Henry ist wieder da

„Henry der Held“ – im Original durchaus mehrdeutiger „A Star called Henry“ betitelt – von Roddy Doyle gilt zweifellos als einer der bedeutendsten Romane irischer Gegenwartsliteratur. Mit „Jazztime“ ist nun die Fortsetzung erschienen, die fast am Land der unbegrenzten Möglichkeiten scheitert.

In „Henry der Held“ schildert Doyle in einer sinnlich-ausufernden Sprache die Jugend von Henry Smart, der als ein rosiger Prachtkerl inmitten von Hunger, Elend, Ratten und Dreck im Dublin des beginnenden 20. Jahrhunderts zur Welt kommt und im Alter von vierzehn Jahren am Osteraufstand von 1916 teilnimmt. Henry steigt in den Reihen der IRA auf, erledigt die Drecksarbeit für Michael Collins und bereitet für De Valera den Weg. Während Henry noch an die Ideale des Freiheitskampfes glaubt, wird schon längst um private Pfründe geschachert und Henry findet sich unversehens selbst auf der Todesliste der IRA. Doyle ist mit diesem Roman eine wortgewaltige, tragisch-komische Abrechnung mit dem folkloristisch verklärten Bild des irischen Befreiungskampfes gelungen – und zudem eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten der Weltliteratur: Der achtjährige Henry verliebt sich in die Lehrerin Miss O’Shea, die ihn später heiraten und im bewaffneten Kampf begleiten wird. Auch als sie verheiratet sind, erfährt Henry nie ihren Vornamen, für ihn bleibt sie immer Miss O’Shea.

Einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen
Dies ist nur eines der unzähligen Details, deren Kenntnis für das Verständnis des nun erschienenen neuen Doyle-Romans „Jazztime“ zwingend erforderlich ist. Dass es sich bei „Jazztime“ um die Fortsetzung von „Henry der Held“ handelt, verschweigt der Hanser Verlag in Pressemitteilungen ebenso wie im Klappentext. Nun ist „Henry der Held“ im Krüger Verlag erschienen, doch sollte die Information des Lesers eine höhere Bedeutung haben als kleinkariertes Konkurrenzdenken… – im Internet finden sich übrigens Hinweise, dass es sich um den zweiten Band einer Trilogie handelt.
„Jazztime“ setzt 1924, also zwei bis drei Jahre nach dem Ende des ersten Bandes ein. Der 22-jährige Henry Smart hat eine rastlose Flucht durch England hinter sich. Liverpool hat ihm nicht den erhofften Schutz der Großstadt geboten, die Schatten der Vergangenheit haben ihn überall im Land eingeholt, Irland hat ihn stets begleitet. Nun geht er in Ellis Island von Bord, betritt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen.
Das Töten wähnt Henry hinter sich, mit seinem smarten Aussehen und den kräftigen Schultern trägt er zunächst als Sandwichmann Reklametafeln spazieren. In Zeiten der Prohibition dienen die Reklametafeln nicht selten zum verdeckten Transport von Schwarzgebranntem. Bevor Henry sich versieht, hat er bereits Ärger mit der Unterwelt Manhattans. Irland mag er hinter sich gelassen haben, die Gewalt bleibt sein stetiger Begleiter.

Entdeckung des Jazz
Über mehrere Stationen und durch verschiedene Betten führt Henrys Weg nach Chicago, wo er den schwarzen Jazz für sich entdeckt. Henry nimmt die damals in den USA existenten Rassengrenzen nicht wahr, taucht ein in die schwarze Szene. Doyle-Fans werden sich an Jimmy Rabitts legendären Ausspruch „Die Iren sind die Schwarzen Europas. Und die Dubliner sind die Schwarzen Irlands“ aus „Commitments“ erinnert fühlen. Henry jedenfalls nimmt die Diskriminierung der Schwarzen erst bewusst wahr, als er von der Mulattin Dora in das komplizierte System „weißer“ und „schwarzer“ Tage in den Jazz-Clubs eingeweiht wird, die Straßen- und Bezirksgrenzen abgesteckt bekommt.
Henry lernt Louis Armstrong am Beginn seiner Karriere kennen, er wird zu Armstrongs stetem Begleiter, zu seinem „weißen Türöffner“. Auf nächtlichen Klautouren kommt es unerwartet zur Wiederbegegnung mit Miss O’Shea und der gemeinsamen Tochter, die Irland auf der Suche nach Henry verlassen haben. Die Wiedervereinigung der Familie steht unter keinem guten Stern, Irland holt die beiden wieder ein…

Tour de force
Roddy Doyle kann leider mit dieser Fortsetzung nicht an den opulent erzählten ersten Band anschließen. Zu rasch hetzt Doyle durch die amerikanischen (Alb-)Traumwelten, hakt Einwanderung, Prohibition, Puritanismus, Rassismus, Aufschwung und Depression ab, macht Station in New York, Chicago und Hollywood, folgt den Spuren des Wassers (auch in Bezug auf das immer wiederkehrende Wassermotiv ist die Kenntnis des ersten Bandes unabdingbar) und den noch frischen Eisenbahnschienen. Neben Armstrong hat auch Al Capone seinen Auftritt oder auch – am sehr abstrusen Ende – Henry Fonda. Bei all diesen Stationen hält sich der Erzähler kaum auf, manch vielversprechender Erzählstrang wird nach ein paar Seiten wieder fallen gelassen.
Dass „Jazztime“ dennoch nicht gescheitert ist, ist das Verdienst von Roddy Doyles Gespür für gesprochene Sprache ebenso wie für Musik. Seine Dialoge sind schon seit der „Barrytown-Trilogie“ legendär, und auch „Jazztime“ glänzt wieder mit temporeichen Wortgefechten – wobei dem Leser hin und wieder die Übersicht verloren gehen kann, wer gerade spricht, zumindest in der deutschen Fassung fehlen manchen Charakteren eindeutig zuzuordnende Stimmen.
Großartig sind Doyle die Szenen gelungen, die sich dem Jazz widmen. Allein die Passagen in denen Armstrongs Bühnenpräsenz zelebriert wird, strotzen vor unterschwelligem Sex und von Magie. Wenn der Ich-Erzähler Henry als Kind und Jugendlicher davon schwärmt, wie alle Welt ihn bewundert und sich die Frauen um ihn reißen, dann hat dies etwas von der Schelmenhaftigkeit eines Oskar Matzerath. In „Jazztime“ hingegen wirkt Henry viel zu häufig eitel und geckenhaft. Sympathie-Verluste der Hauptfigur sind ein Manko – wirklich schade ist es allerdings um Miss O’Shea. Doyle lässt es zu, dass diese einzigartige Person von anderen Figuren in den Hintergrund gerückt wird. Das Wiedersehen von Henry und seiner Frau wird – obwohl Henry vorher stets die Sehnsucht nach ihr zum Ausdruck bringt – zu einer bloßen Episode.
„Jazztime“ ist trotz aller Einwände ein temporeicher und raffinierter Roman, so dass man nicht behaupten möchte, der Ire Doyle sei an Amerika gescheitert – doch gemessen am bisherigen Werk des Booker-Preisträgers ist er eher schwach. Dies wird umso deutlicher, als man vor der Lektüre dieses Romans zwingend Doyles Meisterwerk „Henry der Held“ lesen muss…

Frank Schorneck

Roddy Doyle: Jazztime. München: Hanser, 2006. 480 Seiten, 24,90 Euro.
Roddy Doyle: Henry der Held. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 2001, 414 S., 9,90 Euro.