Geschrieben am 16. Februar 2011 von für Bücher, Litmag

Roberto Bolaño: Lumpenroman

Kein Trost, nirgends

–Roberto Bolaño widmet seinen letzten Roman über zwei Waisen seinen Kindern. Ein Trostbuch ist es nicht, es ist bitter und beklemmend – und lesenswert. Von Friederike von Criegern.

Ein Mädchen und ein Junge verlieren ihre Eltern, von da an gibt es „keine Nacht mehr und alles [ist] ein Dauerzustand von Sonne und Licht. […] Sonne, Licht und berstende Fenster“. So setzt der „Lumpenroman“ ein, in dem das Mädchen Bianca erzählt, wie sie und ihr kleiner Bruder nach und nach aus dem bürgerlichen Leben fallen. Es ist das letzte Werk des chilenischen Autors Roberto Bolaño, das er noch zu Lebzeiten veröffentlichen konnte. Anders als der Unfalltod der Eltern in dem Roman kam sein Tod zwar früh, aber nicht überraschend. Sterbenskrank hat Bolaño verfügt, was mit seinem Nachlass geschehen sollte, und er hat dieses letzte Werk über zwei Waisen seinen beiden Kindern gewidmet. Die Publikationsumstände könnten ein Buch erwarten lassen, das den hinterbliebenen Kindern Halt bietet, ein Trostbuch für seine Waisen. Dem ist nicht so.

Schon der Titel des knappen Romans – im Original „Una novelita lumpen“, „Lumpenromänchen“ – deutet das Elend an. Zunächst versuchen die jungen Protagonisten noch, ihr gewohntes Leben weiterzuführen, gehen zur Schule, lernen, doch schon nach einem Kapitel bleiben sie zu Hause, nehmen aus materieller Not einfache Arbeiten an und verdämmern den Rest der Tage und Nächte vor dem Fernseher. Besonders in diesen Passagen manifestiert sich die den Text prägende Trostlosigkeit; das Fernsehen bleibt ihnen länger wichtig als Schule und andere Lebenspläne, sie schauen fern und warten auf eine Zukunft, mit der sie sich ansonsten wenig beschäftigen: „Nicht dass es mir etwas ausmachte, aber wir mussten den Ehering meiner Mutter und noch ein paar andere Sachen versetzen (wir haben sie nie ausgelöst), um die Rechnung zu bezahlen und wieder Strom zu bekommen, damit wir wenigstens fernsehen konnten.“ Zusammen gucken sie Pornos, um etwas über die Liebe zu lernen, dann streift das Mädchen allein durch Videotheken, um wahllos Filme auszuleihen und zu versuchen, „die wenigen Dinge zu vergessen, die sie wusste“.
Hörprobe:

Alles eine Frage der Gewohnheit

Hier wird von einem Leben erzählt, bei dem sich auf einen Schlag die Koordinaten verschoben haben, und das die Protagonisten doch mit einem irritierenden Gleichmut in all seiner Unzulänglichkeit hinnehmen. Einmal in Schieflage geraten, rutschen die beiden immer weiter ab, hin in Richtung des titelgebenden „Lumpenproletariats“, hin schließlich zur Kriminalität. Diese Entwicklung hat die Erzählerin von Beginn an erwartet und befürchtet, sie wehrt sich aber nicht dagegen, hofft zu Beginn ihrer Erzählung nur, sie möge wenigstens keine Prostituierte werden. Natürlich wird sie genau das. Zunächst wird Bianca beiläufig von den Männern entjungfert, die sich bei dem Geschwisterpaar einquartiert haben und die ihr Abgleiten entscheidend befördern, dann wird sie von ihnen als Hure – die sich selbst lange für eine Liebende hält – zu einem ehemaligen Bodybuilder-Star geschickt. Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, nach dem Sex dessen Haus auszukundschaften und einen bei dem Alten vermuteten Tresor mit einem Schatz zu finden. Sie fügt sich, lässt ihre Instrumentalisierung genauso geschehen wie die nächtlichen Besuche und die sexuellen Übergriffe der männlichen Mitbewohner.

Emotionen bleiben auf Distanz

Der Hauptfigur geschieht also genau das, was sie zu Beginn am meisten fürchtet. Doch obwohl sie mehrfach glaubt, so aufgewühlt zu sein, dass sie daran sterben müsste, bleibt das Grauen seltsam blass. Das gleißende Licht, in das sie und ihr Bruder seit dem Verlust der Eltern ständig blicken, ist eine Metapher, die nicht recht zur Atmosphäre des Textes passt, und sie ist in dieser Inkohärenz doch wieder schlüssig. Denn auch die Geschwister passen nicht mehr in ihre alte Welt, und ihre Weltwahrnehmung passt nicht zu der ihrer Umgebung: „Die Straßen hatten sich leicht nach links oder rechts verschoben, nach oben oder unten.“ Hier strahlt nichts, selbst die Angst vor dem Sterben wirkt matt, und im Widerspruch zu ihren eigenen Sinneswahrnehmungen scheinen die Jugendlichen selbst zu erlöschen. Die Sprache – auf Deutsch in der hervorragenden Übersetzung von Christian Hansen – ist nüchtern, Emotionen werden auf Distanz gehalten. Bildhaft wird die seelische Qual des Mädchens in seinen Alpträumen, in denen die sonst überwiegend ausgeblendeten Eltern vorkommen – als sprechende, die Tochter nicht kennende Würmer.

Zum Ende hin wird die Protagonistin autonomer, entscheidet schließlich selbst über den vorläufigen Ausgang ihrer Geschichte – eine böse Entscheidung oder eine Entscheidung für das Böse. Was für ein bitteres, beklemmendes Buch hat Bolaño da uns und seinen Kindern hinterlassen. Trost mag der „Lumpenroman“ nicht bieten, doch lesenswert ist er unbedingt.

Friederike von Criegern

Roberto Bolaño: Lumpenroman (Una novelita lumpen, 2002). Aus dem Spanischen von Christian Hansen. München: Hanser Verlag 2010. 109 Seiten. 14,90 Euro. Zur Verlagsseite von Roberto Bolaño geht’s hier. Auf wilde-leser.de wird über Roberto Bolaño diskutiert. Foto: © The Estate of Roberto Bolano.