Geschrieben am 25. Dezember 2006 von für Bücher, Litmag

Roberto Bolano: Der unerträgliche Gaucho

Borges’ Enkel

Bolano ist ein wunderbares Plädoyer für die Kraft der Literatur gelungen und eine Bestandsaufnahme südamerikanischer Verhältnisse über die Literatur hinaus.

Viel zu spät für den deutschsprachigen Markt entdeckt wurde der 1953 in Santiago de Chile geborene Roberto Bolano. Es war 1999, als der Verlag AntjeKunstmann erstmals eine deutsche Übersetzung dieses Autors auf den Markt brachte: Die Naziliteratur in Amerika ist eine Sammlung fiktiver Autorenbiographien, ein skurriles Panoptikum zwischen Borges und Perec, mit ebenso spielerischen wie bitteren Seitenhieben auf die politischen Verhältnisse in südamerikanischen Ländern. Es folgten mit Stern in der Ferne und Amuleto zwei weitere schmale Romane bei Kunstmann, der fast 700 Seiten umfassende großartige Roman Die wilden Detektive erschien bei Hanser. Von der literarischen Welt (und, ich muss es gestehen: auch von mindestens einem seiner begeisterten Leser) weitestgehend unbemerkt starb Roberto Bolano am 15.07.2003 in Barcelona (selbst der Klappentext des „Gaucho“ datiert das Todesjahr fälschlicherweise auf 2004).

Der unerträgliche Gaucho ist das letzte Buch Bolanos, das noch zu seinen Lebzeiten erschienen ist und kann als eine Art Abschiedsbuch gelesen werden. Der Autor, der an einer Leberzirrhose litt, konnte seine Chancen auf eine Transplantation abschätzen, thematisiert offen oder versteckt Krankheit und Tod. Fünf Erzählungen und zwei Essays sind in dem Band versammelt – und die literarische Könnerschaft Bolanos spricht aus nahezu jeder Zeile.

Nur knapp vier Seiten umfasst der melancholische Einstieg „Jim“. Mit sparsamen Mitteln wird die Zerrissenheit eines nordamerikanischen Vietnam-Veteranen dargestellt, der in Südamerika die Exotik, die Literatur und letztlich wohl auch den Tod sucht.
In der Titelgeschichte hingegen sucht der pensionierte Rechtsanwalt Manuel Pereda im krisengeschüttelten Argentinien sein Glück außerhalb des Molochs Buenos Aires. Der Versuch, sich auf dem Land auf traditionelle Werte zu besinnen, lässt ihn verrohen – ähnlich der blutrünstigen Kaninchen, die anstelle von Rindern die Steppe bevölkern und eine Bedrohung für den unbedarften Reiter darstellen. Die dichte Geschichte versprüht ohne Übertreibung den Zauber einer Borges-Erzählung.
„Der Rattenpolizist“ ist eine kaum verschlüsselte (aber dennoch höchst intelligente) Parabel: In der Kanalisation einer großen Stadt tut José seinen Dienst. Als pflichtbewusster Rattenpolizist nimmt er den Kampf mit Räubern wie Mardern oder Schlangen auf, verteidigt sein Volk gegen Eindringlinge – nur um feststellen zu müssen, dass die Mörder auch unter den Ratten selbst zu finden sind.
Die literarisch reizvollste Geschichte jedoch ist „Die Reise des Álvaro Rousselot“, ein labyrinthisches Spiel mit Original und Fälschung, Literatur und Realität. Ein argentinischer Autor begibt sich in Paris auf die Spur eines Filmregisseurs, der allem Anschein nach seine Romanideen für Filme plagiiert hat, und verliert sich in den Gassen von Paris, in den Armen einer schönen Frau.

Literatur, Sex und Reisen

In dem Essay „Literatur + Krankheit = Krankheit“ geht Bolano ungemein offen mit seinem eigenen Sterben um. Nicht larmoyant, sondern mit einer guten Portion Galgenhumor schreibt Bolano über diverseste Aspekte des Krankseins. Vom Verhältnis zu seinem Arzt („wie ein millionenschwerer griechischer Reeder zu seiner Ehefrau, die er zwar liebt, aber so selten wie möglich zu sehen versucht“), vom Verlangen des Todgeweihten nach Sex („Sogar die Toten, habe ich irgendwo gelesen, wollen einzig und allein vögeln. Traurig, aber wahr.“), von den Risiken des Reisens („Es ist in der Tat gesünder, nicht zu reisen, gesünder, sich nicht vom Fleck zu rühren, nie das Haus zu verlassen …“) und von den Gefahren des Lesens. Er rekapituliert ein Leben voller Literatur, Sex und Reisen, doch „das Ende der Reise naht“. Mit dem Wissen um Bolanos Tod liest sich dieser Text beinahe wie ein Abschiedsbrief.

Der darauf folgende Essay „Der Cthulhu-Mythos“ (in Anspielung auf H. P. Lovecraft) ist dann so etwas wie ein literarisches Vermächtnis. In der bitterbösen Bestandsaufnahme der spanischsprachigen Gegenwartsliteratur nimmt Bolano kein Blatt vor den Mund: „Warum verkaufen sich Pérez-Reverte, Vázquez Fugueroa oder irgendein anderer Erfolgsautor (…) so gut? (…) weil man ihre Geschichten versteht. Weil die Leser, die sich niemals irren, nicht in ihrer Eigenschaft als Leser, (…) sondern in ihrer Eigenschaft als Konsumenten, in diesem Fall von Büchern, ihre Romane und Geschichten voll und ganz verstehen.“ Bolano ist hier ein wunderbares Plädoyer für die Kraft der Literatur gelungen und eine Bestandsaufnahme südamerikanischer Verhältnisse über die Literatur hinaus.

Diese Textsammlung lässt den Leser wehmütig zurück und es ist nur ein kleiner Trost, dass noch mindestens zwei Handvoll von Bolanos Werken einer Übersetzung harren. Wenn Bolano schreibt, „vielleicht will ich sagen, dass Reisen, Sexualität und Bücher Wege sind, die nirgendwo hinführen. Und trotzdem sollte man sich auf diese Wege begeben, sich in sie verlaufen, um sich wieder zu finden oder – wenn man Glück hat – das Neue zu finden, das es schon immer gab“, dann wünscht man sich, dass die deutschen Verlage dem geneigten Leser die Möglichkeit geben werden, noch viele solcher Wege mit diesem viel zu früh verstorbenen Autor zu betreten.

Frank Schorneck

Roberto Bolano: Der unerträgliche Gaucho. Übersetzt von Hanna Grzimek und Peter Kutzen. Antje Kunstmann 2006. 188 Seiten. 16,90 Euro.