Geschrieben am 20. Februar 2004 von für Bücher, Litmag

Raymond Carver: Kathedrale

In den Kerkern kleinbürgerlichen Glücks

Mit seinem radikalen Realismus taucht Raymond Carver auch in seinem dritten Erzählband in die Abgründe des Alltags und zeigt das Scheitern der Hoffnungen .

Joe Penny ist Vater zweier Kinder, hat eine Frau, die er liebt, einen Beruf den er mag, ein Haus und ist glücklich darüber, wie die Dinge laufen. Aus irgendeinem Grund beginnt er eines Tages mehr zu trinken als sonst. Lange Zeit Bier, nur Bier, alle Sorten, bis er irgendwann auf Gin Tonic übergeht. Bald fängt er an, nach der Arbeit auf ein paar Drinks halt zu machen, bald am frühen Nachmittag zu trinken und bald hat er eine Thermosflasche mit Wodka in der Lunchdose. Abends kommt es zu handfesten Auseinandersetzungen mit seiner Frau. Sie bricht ihm die Nase, er kugelt ihr den Arm aus. Besoffen im Auto verliert er seinen Führerschein, bei seiner Arbeit als Schornsteinfeger stürzt er vom Dach. Bis Vater und Bruder der Frau ihn eines Tages ins Auto laden und zum Entzug bringen.

Joe Pennys Lebensgeschichte ist eine der vielen Geschichten des Scheiterns, die Carver in seinem dritten Erzählband „Kathedrale“ vereinigt. Sie ist so exemplarisch, wie alle anderen auch: Eine Figur aus dem amerikanischen Alltag versucht, eine vorgeprägte Vorstellung kleinbürgerlichen Glücks zu verwirklichen, strauchelt, kämpft, gibt auf, fällt und bekommt in einem unerwarteten Moment die Gelegenheit, verlorenes Leben im Rückblick zu betrachten und nach Gründen zu suchen. Das Scheitern in Ehe und Beruf, die aussichtslose Flucht in den Alkohol, die negativen Auswirkungen auf die Kinder, all das sind typische Carver-Themen, die man hinreichend aus den zwei Vorgängerbänden „Würdest du bitte endlich still sein, bitte“ und „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ kennt. Aber dass sich aus Rückblicken eine neue Chance entwickeln könnte, dass sich Auswege zumindest ahnen lassen, das ist neu. Und trotzdem hat Carver nichts von seiner lakonischen Radikalität verloren oder gar zu viel Mitleid mit dem Elend seiner Figuren. Die Hoffnungen sind brüchig, die Gefahr erneuten Scheiterns mehr als präsent. Uneingeschränktes Alltagsglück gibt es nicht. Aber immerhin eine vage Ahnung von Zufriedenheit.

Joe Penny bekommt seine zweite Chance in „Frank Martin’s Entziehungsheim“. Dort hat man zwei Möglichkeiten, die Zeit zwischen den Mahlzeiten rumzubringen: Entweder man hockt sich vor den Fernseher, oder man erzählt sich seine Lebensgeschichte und versucht daraus Erkenntnisse zu ziehen, um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Wie es dazu gekommen ist, dass man zum ersten, zweiten oder soundsovielten Mal hier gelandet ist, um gegen König Alkohol zu kämpfen, das wissen die meisten, aber warum, das kann niemand sagen. „Wer weiß, warum wir tun, was wir tun?“ kommentiert Joe Pennys Freund, der Erzähler der Geschichte „Von wo ich anrufe“, und stellt damit eine Frage, die alle Erzählungen des Bandes aufwerfen, ohne eine explizite Antwort parat zu haben. Die Gründe liegen immer in den Geschichten verborgen, in den subtil verflochtenen Details der Gespräche und Handlungen, in den unerfüllten Möglichkeiten und Träumen. „Der Kurzgeschichtenautor muss versuchen, zu zeigen, wie die Dinge sein könnten, um daraus zu erklären, wie sie sind“, schreibt Carver in seinem Essay „On writing“. Er beherrscht das bis zur Meisterschaft. So leicht, so lässig dahingeschrieben, so einfach Carvers Sätze auch wirken, sie sind genau kalkuliert. Ein radikaler, rudimentärer Realismus, der keinen Raum für Überflüssiges lässt. Alles, jedes Wort, jede Beobachtung, jede Szene scheint wichtig, und man muss genau hinschauen, genau lesen, um die Nuancen zu erfassen. „Die Dinge in ihrem Schweigen zum Sprechen bringen“, hat John Updike diese Eigenart der Erzählungen Carvers einmal genannt.

In „Chefs Haus“ bekommt ein getrennt lebendes Ehepaar die Chance, einen Sommer im Haus eines Freundes zu verbringen. Die beiden verzichten auf Alkohol und gegenseitige Vorwürfe und erleben einen zweiten Frühling. Als sie das Haus wieder verlassen müssen ist klar: es war nur eine kurze Phase des Glücks, es wird keine Fortsetzung geben. Die Verletzungen der Vergangenheit sind irreparabel, lassen sich nicht wegdenken. „Nimm an, nichts von all dem wäre passiert, dies wäre das erste Mal gewesen“, sagt die Frau. „Dann müssten wir andere Menschen sein, wenn das der Fall wäre. Aber wir sind wir.“ antwortet der Ehemann. „Verstehst du, was ich sagen will?“. Sie versteht. Der Leser auch.

In den 12 Geschichten des Bandes sind Lebensschicksale immer Abhängigkeiten und Kausalitäten. Häufig geht es um das Verhältnis geschiedener Eltern zu ihren Kindern. Oder um das Gefangensein im Korsett einer erstarrten Ehebeziehung. In „Konservierung“ beginnt eine Frau gleichzeitig zwei Dinge zu ahnen: erstens, dass sie sich von ihrem Mann trennen muss, der sich resigniert, ohne jeglichen Impuls auf ein arbeitsloses Leben auf dem Sofa vor dem Fernseher einrichtet und zweitens: dass sie es niemals schaffen wird. Dieser kurze und eindringliche Moment einer ersten Ahnung, lässt sie erstarren, ohne dass sie sich der Tragweite des Augenblicks bewusst wäre. Nur in der Distanz des Lesers ist sie spürbar, fühlbar, durchschaubar. Das ist das Dramatische: Die Lähmung des Alltags, die Gefangenheit in der aussichtslosen Situation des eigenen Seins nimmt nur der Andere wahr. Wie so oft im Leben.

„Ich denke, die Aufgabe eines Kurzgeschichtenautors ist es, alle Kraft daran zu setzen, diese eine Sekunde festzuhalten, in der es geschieht, den Moment, bevor eine Tür für immer zuschlägt, die Sekunde, in der ein Satz nicht ausgesprochen oder nicht zu Ende gesprochen wird“, schreibt Carver in oben genanntem Essay. Dass er diese Aufgabe eindrucksvoll zu lösen weiß, beweist er auch in „Kathedrale“. Allerdings schränkt er die fatale Endgültigkeit, die dieser Moment, diese eine Sekunde früher bei ihm hatte, in einigen Geschichten dieses Bandes wieder ein. In der Distanz, die die Figuren durch die Bewertung gelebten Lebens gewinnen, ergeben sich neue Spielräume – vorsichtige Hoffnungen, dass es vielleicht doch noch anders gehen könnte. Und das ist viel für Figuren, die im Kerker kleinbürgerlicher Glücksvisionen gefangen sind.

Markus Kuhn

Raymond Carver: Kathedrale. Berlin-Verlag, 269 S., 17, 39 Euro