Geschrieben am 23. Januar 2006 von für Bücher, Litmag

Ray Loriga: Der Mann, der Manhattan erfand

Getrennte Zwillinge

Traumartig und doch gestochen scharf entwirft der elegante Erzähler Loriga seine New York-Vision, die Mental-Map einer traurigen und zerrissenen Stadt.

New York war schon immer mehr als eine Stadt: ein Mythos, ein Symbol des Amerikanischen Traums, if you can make ít there, you can make it everywhere. Vom Tellerwäscher zum Millionär erschien nirgendwo greifbarer, als in dieser traumdurchdrungenen, pulsierenden Metropole. Seit Stephen Cranes Maggie und Dos Passos’ Manhattan Transfer wird auch die dunkle Seite des Mythos mitgedacht; die Stadt als Menschenfresser, der Moloch als Maschine, die Entfremdung produziert, Elend und Tod. Zerstörerische Isolation und stimulierende geistige Energie bildeten fortan den Kern jeder Großstadt-Wahrnehmung und die Referenzpunkte literarischer Darstellung.

Auch Ray Lorigas neuer Roman dramatisiert diese Ambivalenz von quälender Einsamkeit und befreiender Stimulation der Phantasie. Lorigas Titelheld Charlie, Hausmeister in Manhattan, repräsentiert den Mythos New York. Er heißt eigentlich Gerald Ulsrak und stammt aus einem kleinen rumänischen Bergdorf. Er ist der Mann, der Manhattan erfand; bereits in seiner alten Heimat erzählte er pausenlos und detailgetreu von New York, erweckte die Stadt zum Leben, ohne jemals da gewesen zu sein. Auch nach seiner Immigration vermischt er Realität und blühende Vorstellungskraft: Beim Bier mit seinem Freund erinnert er sich neben realen Erlebnissen auch en Detail an Dinge, die nie passiert waren. Schließlich erliegt er aber doch der zerstörerischen Kraft der Metropole: Hatte er früher gedacht, Manhattan wäre so etwas Ähnliches wie der Himmel, so denkt der einsame Hausmeister zum Schluss seines Lebens, der Himmel sei ein besseres Manhattan und knüpft sich auf, am Dachbalken des Hochhauses, das er bewohnt.

Der Spanier Ray Loriga, der selber einige Jahre in New York lebte, pflegt ebenfalls die Erzählhaltung seines immigrierten Titelhelden. Im Blick des Immigranten auf New York vermischen sich Realität, Traum und Legende. Mit einer Idee seiner neuen Heimat im Kopf verlässt jeder Auswanderer die alte: Während der zwangsweise Exilierte von dem Ort träumt, der hinter ihm liegt, träumt „der freiwillig Exilierte von dem Ort, an dem er sich gerade befindet“. Mit dieser Wahrnehmungsstruktur spielt Loriga und findet dadurch eine überzeugende Form, sich dem Mythos New York zu nähern. Und so erscheint es auch gar nicht paradox, wenn es zu Beginn heißt: „Alle Geschichten in diesem Buch sind Teil von Charlies Traum, alle sind erfunden, obwohl viele, vielleicht sogar die meisten, wahr sind.“

Geschickte Montage verschiedener Erzählstränge

Etwas weniger drängend als das wuchtig-verstörende Tokio liebt uns nicht mehr ist Lorigas neues Buch, reifer im Ton, zurückhaltender. In Anlehnung an die Erzählverfahren eines Raymond Carver (Short Cuts) und John Dos Passos erweist sich der Autor als brillanter Komponist: Gekonnt schneidet er Momentaufnahmen der verschiedenen Erzählstränge ineinander, ohne Rücksicht auf Raum und Zeit. Sein illustres Figurenensemble umfasst unter anderem:

Simonetta, Chefredakteurin eines Frauenmagazins und besessen von dem Sisyphus-Vorhaben, den genauen Ort zu finden an dem der Dichter Robert Lowell starb, der an einem Herzinfarkt im Fond eines Taxis zugrunde ging / die wunderschönen koreanischen Zwillinge Zen Lee und Zen Zen, Angestellte in einem Schönheitssalon / einen von Selbstzweifeln gequälten mexikanischen Filmstar / Arnold Grumberg, Klavierhändler, Alkoholiker, Muttersöhnchen, der auf mysteriöse Weise ums Leben kommt / Romero, selbsternannter Doktor und Hobbydetektiv / Dutch Schulz und seine Killer / Borroughs in einem Pissor / Andreas Ringmayer III., seine Frau Martha / mexikanische Zauberpuppen / David Letterman – und Missy, die kleinste Maus der Welt, die zwar die Eichhörnchenattacken im Central Park überlebt, nicht aber die Mausefallen der Menschen.

Traumartig und doch gestochen scharf entwirft der elegante Erzähler Loriga seine New York-Vision. Die Geschichten berühren sich, die Figuren interagieren oder leben aneinander vorbei, die Mental-Map einer traurigen und zerrissenen Stadt entsteht.

Skurrile Szenen, tiefschwarzer Humor

In skurrilen Szenen, mit tiefschwarzem Humor zeigt Loriga die Verwirrung, die Ängste, die Vereinzelung des Großstadt-Menschen. Die komplexeste Figur gelingt ihm mit Andreas Ringmayer III. Während seine Frau nach einem Unfall kopfüber in ihrem Wagen hängt, mit blutdurchtränktem Gehirn Zirkuselefanten und skurrilen Sex deliriert und im Hintergrund Flugzeuge ins World Trade Center einschlagen – der Moment, in dem sie entscheidet, nun endgültig verrückt geworden zu sein – verfolgt Andreas besessen die wunderschönen Zwillinge Zen Lee und Zen Zen auf ihrem Heimweg. Die beiden Koreanerinnen werden zum Symbol von Gemeinsamkeit in einer zersplitterten Welt. Von den Menschenmassen in der überfüllten U-Bahn gegeneinander gedrückt, berühren sich ihre Brustwarzen unter dem locker fallenden T-Shirts. Und Ringmayer III. spürt zum letzten Mal intensiv das Glücksgefühl eines sinnhaften Musters, einer einheitlichen Ordnung, die seinem Leben so sehr fehlt. Als die beiden Zwillinge sich schließlich unerwartet trennen, spürt er, wie es ihn endgültig zerreist – und alles was bleibt, ist eine umfassende Entfremdung: „Alles erscheint mir fremd. Alles, was mein Leben ausmacht. Alles fremd“.

Am Ende steht die trunkene Weisheit eines irischen Auswanderers, die für alle Roman-Figuren in diesem von Angst und Unsicherheit durchdrungenen Buch gilt: „Wer New York liebt, hasst sich selbst ein kleines bisschen.“

Jan Karsten

Ray Loriga: Der Mann, der Manhattan erfand. Übersetzt von Alexander Dobler. A1 Verlag 2006. Hardcover. 211 Seiten. 18,40 Euro. ISBN 3-927743-80-1.