Geschrieben am 26. Juli 2008 von für Bücher, Crimemag

Raúl Argemí: Chamäleon Cacho

Mimikry und Überleben

Ein perfekt getarntes und höchst anpassungsfähiges Chamäleon setzt staatliche Ordnungskräfte schachmatt, indem es von der einen Figur zur anderen mutiert.
Raúl Argemís erstes auf Deutsch erschienenes Buch – vorgestellt von Doris Wieser.

Der argentinische Schriftsteller Raúl Argemí (*1946, La Plata) begann spät zu schreiben, nachdem er viel Realität erlebt und erlitten hatte. 1969-74 kämpfte er gegen die rechtskonservative Militärdiktatur, weswegen er zehn Jahre ins Gefängnis kam; zwei davon verbrachte er in den sogenannten pabellones de la muerte (Todeszellen). Währenddessen kam Ex-Präsident Perón noch einmal zurück an die Macht und ab 1976 installierte sich eine neue Militärdiktatur unter General Videla, der bis 1978 den sogenannten „schmutzigen Krieg“ (guerra sucia) gegen Regimegegner führte. Man schätzt, dass damals 30.000 Menschen „verschwanden“ bzw. von der Regierung aus dem Weg geräumt wurden (los desaparecidos). Die berühmt gewordenen Mütter der Plaza de Mayo demonstrieren seither jeden Donnerstag stumm auf der Plaza und fordern eine Erklärung über den Verbleib ihrer Kinder. Frei kam Argemí erst, als sich die politische Landschaft wieder veränderte und 1983 mit Raúl Alfonsín die Demokratisierung einsetzte. Er wurde Journalist und dann Schriftsteller. Heute lebt der Romancier in Barcelona.

Auch wenn im Allgemeinen viel gegen eine biographische Interpretation von Literatur spricht, möchte man einem Autor mit einer solchen Lebensgeschichte doch einiges glauben und viel Realitätsbezug zutrauen, spricht er doch selbst in Interviews häufig von Erlebnissen im Gefängnis und von Häftlingen, die ihn zu Romanfiguren wie Chamäleon Cacho inspiriert haben. Die Geschichten, die er erzählt, überzeugen nicht nur durch eine ausgefeilte Erzähltechnik, die einen persuasiven Wirklichkeitsbezug herstellt, sondern eben auch dadurch, dass der Autor aus einem reichen Erfahrungsschatz mit den politischen Schattenseiten seines Landes schöpft.

Vielstimmiges Erzählen

Die zentrale Achse des vielstimmigen Romans Chamäleon Cacho ist der Ich-Erzähler, vermeintlich Manuel Carraspique, ein Journalist, der nach einem Autounfall schwerverletzt und paralysiert im Krankenhaus liegt. Er teilt sich das Zimmer mit einem Brandopfer, dessen Körper fast vollständig bandagiert ist. Seine Fingerkuppen sind so verkohlt, dass die Polizei keine Abdrücke nehmen kann. Handelt es sich vielleicht um den Indio Prudencio (der „Vernünftige“!) Márquez, der sich in seiner religiösen Verblendung für Abraham hielt und Frau und Kind Gott opferte? Der Ich-Erzähler träumt davon, mit der Story über diesen verrückten Indio ganz groß herauszukommen. Augenscheinlich entlockt er dem Delirierenden seltsame Berichte über die unterschiedlichsten Personen, die die anderen Kapitel mit den anderen Stimmen bilden. Doch er täuscht den Leser. Am Ende fallen die Erzählstränge als Facetten ein und derselben Person – Cacho – in einen zusammen.

Chamäleon Cacho ist ein echt postkoloniales Wesen, das durch eine nahezu perfekte Mimikry die Identität anderer aufsaugt und sich aneignet. So verwandelt er sich nach Belieben vom Drogenboss in einen renommierten Arzt, katholischen Priester oder unerbittlichen Militär. Das Vexierbild Cacho entkommt dabei durch geschickte Täuschungsmanöver und rohe Gewalt immer wieder der Strafe des Gesetzes.
In Argemís Roman geht es aber nicht nur um Identität, sondern vor allem auch um die Machtpositionen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen im politisch instabilen Argentinien, in dem die stark dezimierten Mapuches an den geografischen und gesellschaftlichen Rand gedrängt leben. Wer von einer Identität zur anderen wechselt und alle Rollen bis zur Perfektion verkörpert, bemächtigt sich auch des jeweiligen Machtdiskurses. Als Drogenboss sind dem Protagonisten die kleinen Dealer und Süchtigen ausgeliefert, als Arzt die Patienten, als Militär die Regimegegner, die zuerst gefoltert und dann mit dem Flugzeug überm Meer abgeworfen werden (los desaparecidos). Als Priester betrügt und benutzt er einfältige Indios wie Prudencio Márquez und als Journalist versucht er mit einem letzten Machtdiskurs, dem der Presse, seiner eigenen Verurteilung zu entrinnen. Wer – wie Cacho – Folter, Macht, Geld und polizeiliche Verfolgung, als besonderen Nervenkitzel erlebt, potenziert seinen sadomasochistischen Genuss, wenn er mit vielen Figuren gleichzeitig spielt. Der Roman gleicht daher einem Schachspiel, bei dem der Bauer, wenn er keine Lust mehr hat, Bauer zu sein, wie der Springer zu galoppieren und wie die Dame zu morden beginnt, ohne dass der Gegner etwas davon mitbekommt. Und natürlich gewinnt er.

Nur Opfer?

Leider werden in Argemís Roman die Mapuches, von denen es auf der argentinischen Seite der Anden nur noch sehr wenige gibt, zu einseitig als Opfer dargestellt. Der verblendete Indio Márquez nimmt die katholische Glaubenslehre allzu wörtlich und begeht eine abscheuliche Bluttat. Man kann dem Autor hier vorwerfen, dass er kein Gegenbeispiel für Márquez’ Naivität entwirft, keinen Mapuche, der weitblickender wäre oder dem destruktiven westlichen Diskurs irgendetwas anderes Starkes entgegensetzen würde. Das ist etwas frustrierend und allzu stereotyp.

Der Roman ist aber sonst so wunderbar stringent konstruiert, wie man es nur von den lateinamerikanischen cuentos kennt. Jedes Detail, jeder Satz hat seine Funktion, keine erzählerische Entscheidung ist unbegründet. Chamäleon Cacho enthält einige überraschende Wendungen und eine schlingernde Spannungskurve, die dadurch entsteht, dass der Ich-Erzähler, den Leser immer wieder täuscht. Der Roman enthält daher verschiedene Geschwindigkeiten; man fährt mit ihm, wie auf einer gefährlichen Rennstrecke, was ihn absolut lesenswert macht.

Doris Wieser

Raúl Argemí: Chamäleon Cacho (Penúltimo nombre de guerra, 2004). Roman. Aus dem argentinischen Spanisch von Susanna Mende. Unionsverlag metro 2008. 128 Seiten. 14,90 Euro.