Geschrieben am 12. Februar 2014 von für Bücher, Litmag

Rafael Chirbes: Am Ufer

Vor zwei Wochen hat an dieser Stelle Elfriede Müller Rafael Chirbes letzten großen Roman „Am Ufer“ vorgestellt, als „einen literarischen Genuss, der Trauer und Wut auslöst über den Zustand der Welt“. Wolfram Schütte sieht Vieles ähnlich, findet das Buch „als umfassendes Herbarium der Gesellschaft & der Zeit großartig“, hält es aber „erzählerisch leider nicht für gelungen“. Deshalb ein kleines

chirbes_Am uferP.S.

Ein kritisches Nachwort zu Rafael Chirbes‘ literarischer Totalabrechnung. Von Wolfram Schütte

Das Oeuvre Rafael Chirbes‘ kennen wir durch die großartige Übersetzerin Dagmar Ploetz & die findige Verlegerin Antje Kunstmann, die seit Jahren in ihrem gleichnamigen Verlag die Romane des 1949 bei Valencia geborenen Autors publiziert. Neben ihnen (zuletzt 2008 “Krematorium”) hat Kunstmann aber auch seine Essaybände “Am Mittelmeer” & “Der sesshafte Reisende” herausgebracht.

In ihnen tritt noch eine andere Leidenschaft des Romanciers zutage: sein Reiselust, die ihn rund um die Welt geführt hat – & uns zu faszinierenden Städte- & Landschaftsbildern.

Chirbes ist aber auch ein Gourmet – wie sein gleich ihm politisch auf der radikalen Linken beheimateter Kollege Manuel Vazquez Montalban. Während dieser seine Pepe-Carvalho-Kriminalromane mit Rezepten würzte, hat sich Chirbes jahrzehntelang als Gastrokritiker einer großen spanischen Feinschmeckerzeitschrift finanziell über Wasser gehalten.

Denn von seinen Romanen, die kaum ein gutes Haar an Spanien & seiner Gesellschaft ließen – wie schon die Romane des eine Generation älteren Juan Goytisolo – konnte er nicht leben. Ganz ähnlich wie der Niederländer Cees Nooteboom, der in seiner Heimat auch eher als Reiseschriftsteller bekannt ist (denn wie bei uns als Romancier) hat auch der Spanier in Deutschland mehr Leser als in seinem Mutterland.

Nun hat Dagmar Ploetz den im vergangenen Jahr in Spanien veröffentlichten jüngsten Roman Rafael Chirbes‘, “Am Ufer”, für Kunstmann übersetzt – (& Elfriede Müller ist verständlicherweise begeistert davon).

Nicht nur angesichts seines Umfangs (430 Seiten), sondern vor allem wegen der Fülle seiner Themen ist “Am Ufer” zusammen mit seinem literarischen Vorgänger “Krematorium” das Opus Magnum des Autors. Schon die Titel annoncieren faktisch & symbolisch die Summe seines Oeuvres.

Wie sein Romanwerk insgesamt, so ist auch “Am Ufer” wieder ein weitläufiges, detailliertes Panorama der spanischen Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Es reicht von den Zeiten der Republik über den Sieg des Franquismus im Bürgerkrieg, die Francodiktatur, die “Transicion” zur parlamentaristischen Monarchie bis zur geplatzten Immobilienblase & der katastrophalen gesellschaftlichen Situation der kollektiven Verarmung & Arbeitslosigkeit des Augenblicks.

Ihr können sich allenfalls die Superreichen (& Hauptnutznießer) entziehen – wie der Bauunternehmer Tomas Pedros, der im letzten Kapitel zum “Exodos” zu seinen lateinamerikanischen Reichtümern aufbricht. Das letzte ist das 3. Kapitel des Romans, in dem die Zahl drei mehrfach dazu dient, Personen zu gruppieren (die Familie Esteban, die Geschwister der Hauptfigur & die Kartenspieler).

Näher als Chirbes kann man als Epiker kaum der eigenen Gegenwart, deren Gründen, ihrem historischen Vorgelände & den derzeit grassierenden existentiellen & moralischen Verwerfungen kommen als er nun mit “Am Ufer”.

Das “Ufer” des Titels ist ein hügeliges, mittlerweile teervergiftetes Sumpfgelände am Rande des Mittelmeers: A & O sowohl des Romans als auch des Lebens (& Todes) des bankrotten siebzigjährigen Schreiners Esteban, seines einst republikanischen, neunzigjährigen Vaters (der sich dort nach dem triumphalen Sieg der Franquisten im Bürgerkrieg eine Zeit lang versteckt hatte).

Deren verweste Leichen zusammen mit denen ihres Hundes werden am 26. Dezember 2010 dort gefunden. Davon handelt das erste Kapitel (“Der Fund”). In ihm hat ein Erzähler das Wort, der davon berichtet, wie der marokkanische Imigrant Ahmed in der wüsten Küstenregion, in der gefischt hatte, auf menschliche Leichenteile im Sumpf und in einem ausgebrannten Autowrack stößt. Zwischen dieser Ouvertüre & dem Nachspiel des Romana – dem Inneren Monolog des flüchtigen Bauunternehmers – erstreckt sich das umfangreiche Gelände des Hauptteils.

“Begehung der Schauplätze” hat Chirbes dieses Konglomerat unterschiedlicher Darstellungsweisen genannt. Überwiegend sind es aber fingierte Innere Monologe aller Haupt- & Nebenfiguren. Keine psychologisch ausgeführten Reflexionen, die etwa die jeweilig mit sich selbst memorierenden dramatis personae als Charaktere konturierten; sondern nur als perspektivisch-differente Darstellungsmittel, um Geschichte, Mentalität, Gegenwärtigkeit möglichst in totaler Fülle, Tiefe & Breite evokativ beschwören zu können.

Was noch die Romanciers des 19. Jahrhunderts – etwa Balzac – mit dem allwissenden Erzähler ihren Lesern als kontinuierlichen Erzählfluss imaginativ vorführten, das versucht der “moderne” Chirbes gewissermaßen aus einer Vielzahl unterschiedlich sprudelnder Quellen zu einem großen, aus schillernden, trüben Wassern sich bildenden See des Erzählten zusammenfließen zu lassen.

Rafael Chirbes‘ literarische Intention, die aufs Große der gesamten gesellschaftspolitischen, ökonomischen, historischen, anthropologischen Totalität aus ist, entbehrt jedoch dynamischer erzählerischer Mittel, mit denen er die aufgehäufte Stofffülle in lebendige Bewegung versetzen könnte – wie das Karl Kraus mit seinen Swiftschen satirischen Lesedrama “Die letzten Tage der Menschheit” gelungen ist.

Rafael Chirbes‘ episches Panorama ist zwar imponierend umfangreich, wird aber nicht ästhetisch überzeugend dargeboten, das Buch ist zwar als umfassendes Herbarium der Gesellschaft & der Zeit großartig, aber erzählerisch leider nicht gelungen. Es gelingt ihm nämlich nicht, seine diskursive (essayistische) Grundlage, die manchmal sogar leitartikelnd hervortritt, hinreichend in bewegte, sinnlich präsente Darstellung zu übersetzen, sein dialektischer Blick auf seine Personen erscheint mechanistisch & pauschalisierend .

“Am Ufer” kumuliert seine Stoffe leider nur & stereotypisiert fast alle seine unterschiedlichen Figuren zu sehr auf einen gemeinsamen Nenner der brutalen Sexualität, der materialistischen Gier & des rücksichtslosen Opportunismus‘. Die scheinbare Fülle erstickt an einer gleichförmigen Abstraktheit der Figuren, die wiederholt dem gleichen psychischen Erlebnis- & Darstellungsschema unterworfen werden. Es kommt der Eindruck von Stagnation & Redundanz auf: die schlimmsten Gefahren für literarische Epik.

Was Elfriede Müller zurecht als “Trostlosigkeit” konstatiert, ist ein anthropologischer Pessimismus. In ihn ist die Bitternis des von den spanischen Sozialisten vollständig enttäuschten Linken Chirbes nach seinem “Krematorium” offenbar umgeschlagen. Insofern steht er nun “Am Ufer” einer Katastrophe, die ihm die letzten Tage der Menschheit zu annoncieren scheint – und nicht nur eine spanische Tragödie.

Als sich mir der Eindruck des literarischen Scheiterns von Rafael Chirbes letztem Roman verdichtete, fielen mir Brechts Zeilen aus seiner lyrischen Adresse “An die Nachgeborenen” ein, die für das trotz aller Einwände immer noch große, gewagte Buch des Spaniers auch zutreffen mögen: “Auch der Hass gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge./ Auch der Zorn über das Unrecht / macht die Stimme heiser.

Wolfram Schütte

Rafael Chirbes: Am Ufer. Roman. Verlag Antje Kunstmann, München 2014. 400 Seiten. 24,95 Euro, eBook 19,99 Euro.

Tags :