Geschrieben am 1. April 2016 von für Bücher, Kolumnen und Themen, Litmag

Primärtext: Carl Nixon: Fish’n’Chip Shop Song

Seines AuCarl Nixonges Apfel

— Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Im April ist es eine Erzählung aus der Sammlung „Fish’n’Chip Shop Song“ von dem neuseeländischen Autor Carl Nixon, die bei CulturBooks erschienen ist. „Seines Auges Apfel“ wurde übersetzt von Martina Schmid. 

Sein Name war Coutts, und er hatte einen Obstladen, der für seine auf Hochglanz polierten Früchte in der Auslage berühmt war. Jeden Morgen bei Anbruch des Tages kam Coutts aus seiner Wohnung über dem Geschäft und reihte die Früchte in verbeulten Ablagen auf Tapeziertischen im Eingang und auf dem gefegten Gehsteig auf. Er polierte jedes Stück selbst. Leute auf dem Weg von und zur Arbeit hielten oft an und bewunderten den spiegelgleichen Glanz eines Granny Smith oder sahen in die glänzenden Oberflächen der Reihen von Royal Galas. Seine Orangen, Mandarinen und Clementinen leuchteten. Seine Pracht machte ihrem Namen alle Ehre. Coutts führte keine Kiwis, Birnen oder Ananas – oder sonstige haarige, stachelige oder anderweitig glanzlose Früchte. Warum sollte er auch? Bewunderung führte fast immer zum Kauf. Die Geschäfte liefen gut.

Trotz dieses Verkaufsaufkommens hatte Coutts zwei Probleme, die ihn beschäftigten. Erstens war er ungewöhnlich klein, obwohl ihn als Zwerg zu bezeichnen irreführend wäre. Es wäre eine effekthascherische Übertreibung, eine Verdrehung der Tatsachen. Oder eher eine Verkleinerung, eine Reduktion. Er ging ohne den rollenden Seegang eines echten Zwergs. Sein Körper war hager wie der eines Neunjährigen, und seine Finger hätten es ihm erlaubt, Klavier zu spielen, wenn er die Neigung dazu gehabt hätte. Die er aber, fürs Protokoll, nicht hatte.

So klein zu sein hatte jedenfalls einen bestimmten Nachteil im Alltagsgeschäft eines Obsthändlers. Um so viel wie nötig auf Vorrat zu haben, waren mehrere Regale notwendig, sowohl im Laden als auch hinten im Lagerraum.

Regale vom Boden bis fast unter die Decke.

Eine unnatürliche Fülle solcher Regale.

Ein sehr kleiner Mann.

Muss ich noch deutlicher werden?

Die Lösung des zweiten Problems würde mehr als eine Leiter und Kondition erfordern. Coutts hatte keine Kinder. Er war verheiratet gewesen, aber seine Frau hatte ihn unter Umständen verlassen, die zu schmerzhaft waren, um sie sich in Erinnerung zu rufen. So schmerzhaft, dass er sich als Witwer betrachtete, obwohl sie noch am Leben war. Als sie noch zusammen waren, hatten sie versucht, Frucht aus ihren Lenden zu erzeugen. Jedoch hatte ein Arzt der Sorte Spezialist Coutts nach einem Blick in ein Mikroskop informiert, dass seine Spermien einen zu kurzen Schwanz hatten. »Schlechte Schwimmer, fürchte ich. Es tut mir leid.« Coutts Chancen auf ein Kind, das den Obstladen übernehmen konnte, standen so schlecht, wie eine Ladyfingerbanane kurz war.

Selbst ohne Familie lässt das Leben als Obstladenbesitzer kaum Raum für Freizeit. Es ist zwar richtig, dass Coutts abends gern las, hauptsächlich Biografien von kleinen Menschen – Napoleon war einer seiner Favoriten, und Isaac Newton war auch nur einsvierundfünfzig. Aber alles in allem bestanden seine langen Arbeitstage aus unzähligen Aufgaben, die sich von Anfang bis Ende um das Läuten der altmodischen Glocke über der Tür drehten. Sonntags ließ Coutts es sich aber gut gehen. Er schloss den Laden früh und brachte die letzten Stunden vor Einbruch der Dunkelheit damit zu, an den Kais entlang und durch die Hügel hinter der kleinen Hafenstadt zu spazieren, in der er lebte. All das Leitersteigen hatte ihn fit gemacht, und seine kleine Körpergröße hinderte ihn nicht am Gehen.

carl-nixon-fishn_2401 (1)Während einem dieser Spaziergänge (um 18.30 Uhr, falls Sie Details wissen wollen), begegnete Coutts einer Frau. Ihr Körper war lang und dünn, eher wie ein längliches Gemüse – vielleicht eine Stangenbohne – als ein Obst. Aber ihr Bauch wölbte sich vor ihr so groß wie eine Wassermelone. Sie saß auf einer brüchigen Steinmauer, die einst als Begrenzung des alten Steinbruchs gebaut worden war. Die Füße der Frau baumelten, und Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln. Sie tropften von der hohen Wölbung ihrer Wangen auf den staubigen Stein, wo sie kleine, dunkle Flecken wie Samen hinterließen. Als sie sich gefährlich nach vorn lehnte, platschte eine der Tränen auf die Steine weit unter ihr.

Falls Sie das Bedürfnis haben, diese pralle Bohne zu benennen, diese reife Frau, dann kann ich Ihnen sagen, dass ihr Name Eyelash war. Ungewöhnlich, ja, aber nicht beispiellos. Immerhin kann man da draußen auch Rainbows, Skys und Zowies treffen. Ihre Mutter hatte den Namen Eyelash gewählt, nachdem sie eine Unterhaltung im Bus missverstanden hatte. Ein Mann, der in der Reihe vor ihr saß, hatte beiläufig die gerade vorbeilaufende und durchaus bekannte Schauspielerin Eilish Moran erwähnt. Für die Zuhörerin schien der Name Eyelash in einer Reihe zu stehen mit zarten Dingen wie Spitze und Pusteblumen und Brausepulver. Sie war müde. Sie hatte die zierliche Schauspielerin selbst nicht auf dem Gehsteig gesehen. Es war ein Fehler, der leicht passieren konnte.

Aber zurück zu der Mauer über dem Steinbruch. Eyelash war so damit beschäftigt zu weinen und zu seufzen und sich nach vorn zu lehnen, dass sie nicht bemerkte, wie Coutts sich näherte. Als sie sich mit den Händen abstieß, schnellte Coutts nach vorn und bekam ein blau geadertes, dürres Handgelenk zu greifen. Der letzte Teil von ihr, der versuchte hinter dem Mauervorsprung zu verschwinden. Kleinheit schließt Stärke nicht aus. Coutts war jedenfalls stark genug, um den baumelnden Hauch einer Frau aufzuhalten, deren einziger Anspruch auf Stabilität die Wölbung ihres Bauchs war.

Man mag Ihnen die Annahme verzeihen, dass dies eine Liebesgeschichte ist, dass Coutts und Eyelash füreinander geschaffen waren. Das ist es nicht. Sie waren es nie. Dies ist in keinster Weise eine Geschichte über die Leidenschaft zwischen einer großen Frau und einem kleinen Mann. Nachdem Coutts die Frau über den Mauervorsprung gezogen hatte, standen die beiden eine Weile da, studierten sich und waren unbeeindruckt voneinander. Sie keuchten beide, einigermaßen geschockt und aufgeschürft von dem brüchigen Stein. Coutts stellte fest, dass die Arme der Frau, die er gerettet hatte, mit feinen blonden Härchen überzogen waren, die gelegentlich Sommersprossen bedeckten, die ihn an die Druckstellen auf minderwertigem Obst erinnerten. Die Haut auf ihrer Schulter neben den geschwungenen Haaren hatte eine vornehme Blässe, aber schien das Licht eher zu absorbieren als zu reflektieren. Was Eyelash angeht, fühlte sie sich nie zu kleinen Männern hingezogen. Sie stellte fest, dass der Mann, der sie aufgehalten hatte, ihr gerade zur Hälfte zwischen ihren vorgepressten Bauchnabel und ihre leicht geschwollenen Brüste reichte. Da war keine – wie es jene ausdrücken, die Liebe auf eine reine Wissenschaft reduzieren wollen – Chemie.

Es hatte Eyelash einige Zeit gekostet, den Mut zu sammeln, um zu springen. Sie war nicht sicher, ob sie es schaffen würde, denselben Zaubertrick in nächster Zeit noch einmal zu vollführen, und nach den Geschehnissen der letzten sechs Monate war sie in der Stimmung zu reden. Ein Leben hinter der Ladentheke hatte Coutts zu einem versierten Zuhörer gemacht. Sie saßen jeweils an einem Ende einer Bank, die dort vom Gemeinderat wegen der schönen Aussicht auf die Dächer der Stadt und das blutergussblaue Meer aufgestellt worden war.

»Er war der schönste Mann, den ich je gesehen hatte«, fing Eyelash an.

»Oh ja«, sagte Coutts, »ich schätze, das war er.«

Sie sah ihn an, weil sie wissen wollte, ob er sich über sie lustig machte. Sein kleines, aber perfekt proportioniertes Gesicht war ihr in gewissenhafter Konzentration zugewandt. Sie fuhr fort.

Die Geschichte, die sie erzählte, war nur in einigen Details originell. Der Mann, in den sich Eyelash verliebt hatte, war ein Seemann. Aus Norwegen. Scheinbar war sein Haar besonders blond und lockig, sein Kiefer wohlgeformt. Der Seemann war mit einer Gartenleiter zu Eyelashs Zimmer hinaufgestiegen und hatte ihr flüsternd Volkslieder aus seiner Heimat vorgesungen, damit ihre Eltern, die unten schliefen, nichts hörten. Noch während er draußen auf der Leiter stand, hatte er Eyelash zugeflüstert, dass sein Name Lars war und ihre Augen schöner als die Polarlichter. Nach einigen Nächten solcher Unterhaltungen hatte Eyelash ihn hereingebeten. Es war Lars’ Vorschlag gewesen, ihr unter der Bettdecke weiter vorzusingen. Nur um den Lärm zu dämmen, Sie verstehen? Ihren schlafenden Eltern zuliebe. Sie hatte zugestimmt, vielleicht naiv, wie sie jetzt eingestehen musste. Einmal unter der Decke führte eins zum anderen. (Natürlich tat es das!, dachte Coutts, sagte aber nichts.)

An dem Tag, an dem Lars nach Sydney ablegte, bemerkte Eyelash, dass sie schwanger war.

»Mein Vater hat gar nicht gut reagiert«, sagte Eyelash.

»Ja«, sagte Coutts, »ich schätze, das hat er.«

»Als ich es nicht mehr verbergen konnte, habe ich es ihm erzählt. Er schrie und tobte und warf alle meine Kleider aus dem Haus. Meine Mutter hat nur zugeschaut. Sie hat kein Wort gesagt.«

»Wie alt bist du, wenn ich fragen darf?«

»Ich werde neunzehn. Im Juli.«

»Ja«, sagte Coutts, »ich schätze, das wirst du.«

Als Eyelashs Worte alle herausgesprudelt waren und auch der letzte Seufzer verklungen war, saßen sie da und sahen hinab auf die Stadt und das Meer dahinter. Die Sonne war noch nicht ganz untergegangen, und es wehte keine Brise. Die Luft war so warm wie eine sonnengereifte Tomate.

Schließlich machte Coutts einen Vorschlag. Eyelash konnte mitkommen und bei ihm im Obstladen bleiben. Er betonte, dass sie ihr eigenes Zimmer haben würde – ihr eigener Schlüssel wurde mehrfach erwähnt – und dass die einzige Gegenleistung, die von ihr erwartet wurde, ein paar einfache Arbeiten im Geschäft wären. Hauptsächlich sollte sie Sachen von den hohen Regalen holen und zu Stoßzeiten vielleicht auch Kunden bedienen.

»Nur bis du die Sache mit deinen Eltern geregelt hast oder eine andere Lösung findest.«

Eyelash fand sofort Gefallen am Obsthandel. Die Ordnung der Regale und die Reihen glänzender Früchte sprachen sie an. Ihre langen Gliedmaßen waren wie gemacht für die Aufgaben greifen, strecken, packen und verschieben. Die Kasse bereitete ihr etwas Schwierigkeiten, aber Coutts war ein geduldiger, systematischer Lehrer. Im Nu bonierte Eyelash Verkäufe mit dem größten Vergnügen.

Wochen glitten vorbei wie ein Fluss, rauschend und wirbelnd.

Eyelash machte mehrere Versuche, das zerstörte Verhältnis zu ihren Eltern zu kitten. Ihre Mutter wurde ein bisschen weich, ihr Vater jedoch blieb so hart wie eine frisch gepflückte Avocado. Dennoch war Eyelash glücklich. Sie genoss es, bei Coutts zu leben. Trotz seiner Größe empfand sie ihn als angenehme Gesellschaft. Sie mochte den Kontakt mit den vielen zufriedenen Kunden. Sie freute sich sogar darauf, am frühen Morgen die Früchte zu polieren und noch mehr darauf, den Sonnenaufgang zu beobachten, während sie etwas Schönes machte.

Monate vergingen wie ein Lächeln in der Menge.

Eyelash bekam ihr Kind und nannte es John. Sie wusste, was für ein Segen ein einfacher Allerweltsname später im Leben sein würde. Die Einfachheit des Namens war ihr erstes Geschenk an ihren Sohn. Coutts brachte ebenfalls ein Geschenk zur Entbindungsstation. Es war ein Holzapfel, der von einem Meister auf Bestellung aus dem Herz eines Ribu-Baums geschnitzt worden war. Coutts hatte ihn selbst geölt und poliert, bis er die Farbe von fließendem Manuka-Honig hatte.

Jahre vergingen wie das Echo eines Lachens.

John wuchs im Obstladen glücklich auf. Im Alter von sechs Jahren war er so groß wie Coutts. Mit sieben war er größer. Er war ein relativ einfaches Kind, das schnell kicherte, grunzte und lachte und kaum weinte, selbst nach einem harten Sturz. Was sein Aussehen angeht, hatte er dunkles, lockiges Haar. Sein Körperbau bestand aus Rippen und langen Muskeln, eine genetisch gestreckte Kreuzung von einem arischen Seefahrer und einer Stangenbohne.

Coutts brachte John alles bei, was er über den Obsthandel wusste. Wie man das Obst präsentierte, um die Kunden wie die Fliegen anzuziehen. Wo man nach dem zerbeulten Obst suchte, das die weniger mit Skrupel behafteten Großhändler manchmal versuchten, unten in den Kisten zu verstecken. Wie man richtig Wechselgeld gab – indem man vom Preis wie Leitersprossen hoch zählte. John lernte gern. Auch als er schon viel größer war, schaute er immer noch zu Coutts auf.

Es gab ein Spiel, das Coutts und John spielten, wenn keine Kunden im Laden waren. Einer von ihnen versteckte den Holzapfel. Wie nicht schwer zu erraten ist, musste der andere ihn finden. In einem Obstladen gibt es unzählige Winkel, in denen man einen Holzapfel verstecken kann. Es war ein Spiel, das sie schon gespielt hatten, bevor John überhaupt laufen konnte. Er kroch auf dem polierten Boden des Lagerraums herum, schaute in Kisten und stöberte in zerfetztem Verpackungspapier in den Ecken. Er gluckste und jauchzte vor Freude auf seiner Jagd.

»Ich glaube nicht, dass du ihn jemals findest«, sagte Coutts später beim Spielen.

»Ich werde ihn finden.«

»Das glaube ich nicht. Nicht dieses Mal.«

»Er ist aber noch im Laden, oder?«

»Natürlich.«

»Wird es hier wärmer?«

»Dann würde ich es ja verraten, oder?«

John fand ihn jedes Mal. Irgendwann. Und dann war er an der Reihe, den Apfel zu verstecken, und Coutts musste ihn finden. Manchmal dauerte das Spiel Tage. Einmal, als Coutts den Apfel an ein Blatt des sich langsam drehenden Ladenventilators geklebt hatte, brauchte John eine ganze Woche. »Das ist nicht fair«, sagte John, als er die Leiter mit dem glänzenden Apfel in der Hand hinabstieg. »Du hast Klebeband benutzt.«

»Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt«, sagte Coutts.

Nichts, was perfekt scheint, ist es auch. Und falls doch, durch eine Nachlässigkeit des Schicksals, dann währt es nicht sehr lange. Dreizehn Jahre waren eine ganze Menge.

Eines Dienstags (nachmittags um 15.15 Uhr) stand Eyelash bei den polierten Stauden gelber Bananen, als die Glocke zuckte und läutete. Coutts war nicht da, und sie war für den Laden verantwortlich. Sie sah auf und erblickte Lars. Er war nach einer langen Reise auf der Suche nach frischen Früchten hereingekommen. Er trug einen weißen Rollkragenpullover unter einer dunklen Seemannsjacke. Lars brauchte ein paar Sekunden, um Eyelash zu erkennen. (Sie verzieh ihm sofort, es waren immerhin dreizehn Jahre vergangen.) Das Wiedersehen war nicht so unangenehm, wie man vielleicht vermuten würde. Sie redeten. Er lächelte und scherzte. Eyelash lachte. Er nahm ihre Hand. Eyelash errötete und war aufgeregt.

»John«, sagte sie kurz darauf, »ich möchte, dass du deinen Vater kennenlernst.«

Lars nahm seine neu gewonnene Vaterschaft gut auf. Er empfing sowohl den Jungen als auch seine Rolle mit offenen Armen. Er hob den Jungen hoch und wirbelte ihn herum. Ein paar spiegelglatte Maracujas fielen zu Boden, aber niemand bemerkte es.

Lars machte einen Vorschlag. Er hatte einige Jahre als Kapitän gearbeitet und genug gespart, um sich in Norwegen zur Ruhe zu setzen. Er hatte immer geplant, dass dies seine letzte Reise sein würde. Warum kamen Eyelash und John nicht einfach mit? Sie würden ein kleines Haus am Waldrand kaufen und dort glücklich leben. Eyelash dachte darüber nach. Einige Sekunden später stimmte sie zu.

John seinerseits war begeistert, seinen richtigen Vater zu treffen. Er fragte, ob das Haus aus Holzstämmen gebaut sein würde.

»Wenn du willst. Was auch immer du willst.«

Um eine kurze Geschichte noch kürzer zu machen: Eyelash sagte Coutts in jener Nacht, dass sie und John fortgehen würden. Sie packten ihre Sachen.

»Es tut mir leid, euch gehen zu sehen«, sagte Coutts. Er glaubte, dass sie einen Fehler machte, sagte aber nichts. In dieser Nacht machte er kein Auge zu.

Und dann kam der nächste Morgen. Die Wolken hingen niedrig und es nieselte. Die Holzplanken am Kai waren schwarz gefleckt. Tränen flossen, als John und Eyelash ihn umarmten und dann den Steg hinabliefen, wo Lars wartete.

Coutts sah zu, wie das dicke Tau gelöst wurde und das Schiff sich wegdrehte. Er stand da und winkte für eine lange Zeit, dann lief er die Straße hinauf zu dem Platz oberhalb des Steinbruchs, von dem aus er das Schiff langsam aufs Meer hinausfahren sehen konnte. Der Wind war kälter, als er ihn in Erinnerung hatte.

Ich würde gern sagen, dass sie alle glücklich lebten bis ans Ende ihrer Tage.

Lars und Eyelash heirateten traditionell, aber das Haus, das sie kauften, war nicht aus Holz. Genau genommen war es weniger ein Haus als eine steinerne Wohnung in der Stadt. Jahre als Schiffkapitän hatten Lars zu einem geübten Kritiker werden lassen. Er fand, er habe das Recht, auf eine nachlässig gewischte Ecke oder den leicht verbrannten Boden eines Geburtstagskuchens hinzuweisen. Andere Seefahrergewohnheiten behielt er ebenfalls bei. Das Eheleben hatte eine Frau in jedem Hafen auf eine Frau in jeder Straße des schäbigen Stadtviertels reduziert. Während der unendlich langen, dunklen Tage des skandinavischen Winters fand Eyelash Trost in dem weichen und wohltuenden Gebäck ihrer neuen Wahlheimat. In wenigen Jahren war ihre schlanke Statur in Fett gehüllt. Sie wurde zu einem Kürbis von einer Frau. Dementsprechend isoliert eröffnete sie einen Hort für junge, unverheiratete Mütter in einer leer stehenden Wohnung in ihrem Gebäude. Die Arbeit im Obstladen hatte sie zu einer guten Zuhörerin gemacht, und egal wie oft sie dieselbe Geschichte hörte, sie ließ es immer so scheinen, als wäre es das erste Mal.

»Ja«, sagte sie immer, »ich schätze, das war er.«

Eyelash war nicht unglücklich in ihrem neuen Gewand, in ihrem neuen Leben. Noch war sie komplett glücklich. Manchmal vermisste sie ihr altes Leben in dem Obstladen in der kleinen Stadt am Meer. So ist das Leben.

Was John betrifft, lebte er sich gut in seiner neuen Heimat ein. Obwohl die Einheimischen seinen Namen eigenartig aussprachen, machte er sich gut in der Schule und studierte später Wirtschaft an der städtischen Universität. Nach seinem Abschluss eröffnete er ein veganes Restaurant. Es war so erfolgreich, dass aus einem Restaurant bald eine ganze Kette wurde, die nicht nur das Festland, sondern später auch ganze Kontinente umspannte. Trotz seines Erfolgs bestellte John noch immer alles Obst und Gemüse selbst. Ich glaube, er ruft noch immer regelmäßig den kleinen Mann an, den er als seinen Vater betrachtet, um die Höhen und Tiefen des Obst- und Gemüsehandels zu diskutieren.

In einem Obstladen in einer Straße in einer kleinen Stadt am anderen Ende der Welt steht Coutts noch immer hinter der Ladentheke. Auf seine Kunden macht er einen glücklichen Eindruck. Er redet immer gern über das Wetter, obwohl sein Haar ergraut ist und er die Leiter nicht mehr so einfach hoch- und runtersteigt wie früher. Man kann ihn immer noch dabei beobachten, wie er in den frühen Morgenstunden das Obst vor dem Laden poliert. Aber wenn man an einem Sonntagabend kommt, nachdem er früh geschlossen hat, kann man durch das Milchglas in der Tür schauen. Man kann ihn wahrscheinlich ein Spiel spielen sehen. Während man zusieht, wird er vorsichtig ein Stück hölzernes Obst im Laden verstecken.

»Ich glaube nicht, dass du ihn jemals findest«, sagt er zu sich selbst. »Nicht dieses Mal.«

Aus: Carl Nixon: Fish ’n’ Chip Shop Song und andere Geschichten. Übersetzt von Kim Keller, Martina Schmid und Sophie Sumburane. Digitale Originalausgabe. CulturBooks Album, März 2016. 215 Seiten. 8,99 Euro. Zum Titel.

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