Geschrieben am 12. Juli 2008 von für Bücher, Crimemag

Pieke Biermann: Der Asphalt unter Berlin

Essentiell

Hoffnung für die deutsche Kriminalliteratur: Pieke Biermann hat die Recherche für ihre zweite Werkphase abgeschlossen. Ihr neues Buch gelesen und mit ihr gesprochen hat Ulrich Noller.

Zum Beispiel Zsanett. Eine junge Frau aus dem Berliner Osten, die sich – samt ihrer zwei Hunde – endlich abgenabelt hat von Mama und dem Stiefpapa. Seitdem läuft es wieder besser zwischen ihnen allen, Licht am Ende des Tunnels, auch für die Eltern. Zsanett meldet sich fast täglich, meist telefonisch – dann jedoch plötzlich tagelang nicht mehr.
Bald halten die Angehörigen, halten auch Zsanetts Freunde es nicht mehr aus, die Wohnung wird aufgebrochen – aber drinnen finden sich nur die Hunde, halb irre vor Bewegungsmangel, Hunger, Durst. Keine Spur dagegen von Zsanett – der Freundin, der Tochter – weshalb ihre Mutter sich auf eine Spurensuche der Art machen muss, in deren Mitte eine bittere Erkenntnis liegt und an deren Ende der Tod wartet:
Zsanett, die sich abnabelte, um richtig da zu sein, hat angeschafft – gelegentlich zumindest. Sie wollte sich eine eigene Wohnung, ihre Hunde, ein Leben leisten können. Und genau da, beim Anschaffen liegt auch der Grund für ihr Verschwinden, für ihre Qual, für ihr Ende. Das ist klar, auch wenn Zsanetts Leiche niemals gefunden werden wird.

Hört sich an wie der Ausschnitt aus einem Serienkillerroman, an dessen Höhepunkt die Polizei – zum Beispiel – einen Hautarzt festnehmen wird, der in seiner Freizeit Hobbyprostituierte schlachtet. Es ist tatsächlich aber der Inhalt einer Kriminalreportage – Realität also, recherchiert und restauriert, aber auch geformt und protokolliert von Pieke Biermann, nachzulesen in dem Sammelband Der Asphalt unter Berlin, in dem diese einzigartige Publizistin und Autorin gut zwei Dutzend der interessantesten ihrer Berliner Kriminalreportagen versammelt und der mittelfristigen Ewigkeit vermacht hat.

Ursprünglich erschienen (und erscheinen) diese Texte im Vierwochenrhythmus beim Berliner Tagesspiegel und zugleich im rbb-Inforadio, und sie zeigen ihren Lesern und Hörern – sowie den Programmmachern – Stück für Stück, was gehen kann im Journalismus, wenn man Format hat und etwas gehen lassen will. Pieke Biermann setzt sich in diesem Rahmen auf so spannende und packende wie unplakative und neugierig-unbestimmte Weise mit allen Facetten der Polizeiarbeit auseinander: mit Stalking, häuslicher Gewalt und niederschwelliger Wirtschaftskriminalität ebenso wie mit beinharten, fiesen, Ekel erregenden Kapitaldelikten, und sie vollzieht dies Vorhaben so treffend, wie es nur gelingen kann: fundiert, sorgsam, gezielt und temperiert; immer mit einem Blick für die Opfer, immer unter Berücksichtigung aller relevanten Kontexte, immer mit exakter Darstellung des vorliegenden Milieus.

Meisterhafte Prosaminiaturen

Wer ihre Kriminalreportagen so (noch einmal) liest, komprimiert und in Buchform, dem wird erst so richtig klar, warum Pieke Biermann betont, dass ihre Texte die Alltäglichkeit des Verbrechens und das alltägliche Verbrechen vorwiegend mit literarischen, weniger mit journalistischen Mitteln reflektieren: Fast alle Beiträge bieten neben aller journalistischen Essenz und Evidenz zugleich auch gekonnte bis meisterhafte Prosaminiaturen, die nur so tun, als seien sie Reportagen; die tatsächlich aber Dramen, Tragödien, manchmal auch Tragikomödien erzählen; denen, und das ist hierzulande wirklich einzigartig, wenige Silben genügen, um ein Milieu zu umreißen, eine Person zu charakterisieren, eine Gesellschaftsanalyse auf den Punkt zu bringen.

Da versteckt sich das eigentlich Bemerkenswerte an Der Asphalt unter Berlin; der heimliche Grund, warum man dieses Buch – obwohl Zweitverwertung – nicht nur gerne, sondern richtig gerne liest: Pieke Biermann ist wieder da, und zwar auf der Höhe ihres Könnens. Nach über zehn Jahren des Schweigens in Sachen Fiktion, so scheint es, nähert die (immer noch) wichtigste deutsche Kriminalschriftstellerin sich über ihre Polizeirecherche von der Pieke auf wieder ans fiktionale Schreiben an.

Pieke Biermann ist, das macht die gesammelte Lektüre der Reportagen deutlich, so voll mit Stoffen, Charakteren und Geschichten, dass sie zu bersten droht – was aber kein Problem ist, auch das belegt das Buch, da sie nach wie vor über das komplette Arsenal an Schreibwerkzeugen einer internationalen Spitzenautorin verfügt. Fragt sich nur (siehe Interview), welcher Verlag so schlau ist, das zu erkennen. Hoffnung jedenfalls für den Krimi made in Germany: Pieke Biermann im Anmarsch, da ist möglicherweise letztlich sogar noch ein Happy End drin.

Ulrich Noller

Pieke Biermann: Der Asphalt unter Berlin. Kriminalreportagen aus der Hauptstadt. Pendragon 2008. 255 Seiten. 14,90 Euro.