Geschrieben am 24. Januar 2009 von für Bücher, Crimemag

Philip Kerr: Das letzte Experiment

Genial daneben, Mr. Kerr!

Es gibt Romane, die treiben einen an den Rand der Schizophrenie. Philip Kerrs neuer Thriller über Argentinien und die Nazis: Das Experiment zählt dazu. Von Seite zu Seite wuchs der Ärger angesichts geballter, ja unverantwortlicher Geschichts- und Sprachverhunzung. Aber weil das Buch so spannend war, hat Eva Karnofsky allem Entsetzen zum Trotz doch weitergelesen …

Man schreibt das Jahr 1950: Bernie Gunther, der bereits aus Philip Kerrs Berlin-Trilogie bekannte, aufrechte Sozi-Kommissar mit Nazi-Allergie, landet in Buenos Aires. Unter dem Namen Dr. Carlos Hausner, denn einer von Hitlers Schergen hat Bernies Identität geklaut, um den Alliierten zu entkommen. Da bleibt dem Berliner Ex-Kommissar nur, das Weite zu suchen, wenn er nicht Gefahr laufen will, selbst mit den Alliierten in Konflikt zu geraten. Er ist in sauberer Begleitung nach Argentinien gekommen. Einer seiner Mitreisenden war als Leiter des Reichssicherheitshauptamtes mitverantwortlich für den Holocaust. Adolf Eichmann hieß er seinerzeit.

Carlos-Bernie hat kaum Quartier bezogen, als er auch schon zu keinem Geringerem als Präsident Juan Domingo Perón samt Ehefrau Evita geführt wird. Warum der Präsident gerade den ehemaligen Kommissar unter den vielen Neueinwanderern in der neuen Heimat begrüßt, ist reichlich an den Haaren herbeigezogen, aber egal, zumindest kommt Bernie bei der Visite mit Colonel Montalban in Kontakt, der ihn gleich für den argentinischen Geheimdienst SIDE anheuert. Ein Verein, dem bis heute so mancher Skandal an der Backe klebt.

Spannung …

Montalban hatte sich bereits vor dem Zusammentreffen mit Carlos-Bernie aus Berlin alle Akten über die Morde an zwei jungen Mädchen anno 1932 besorgt, die der damalige Kommissar nicht mehr hatte aufklären können, weil die Nazis nach ihrer Machtübernahme kein Interesse mehr an der Wahrheit über diese Verbrechen hatten. Der Colonel beauftragt nun Gunther, einen Fall zu untersuchen, der auf den gleichen Täter hindeutet. Vermutlich ist er in den Kreisen der Nazi-Verbrecher zu suchen, denen Perón nach Kriegsende zu Hunderten Asyl gewährt. Zudem wird die 15-jährige Tochter einer seit Langem in Buenos Aires ansässigen, deutschen Bankiersfamilie vermisst.

Kerr fährt zweigleisig. Zum einen lässt er den Detektiv in den Teil der deutschen Kolonie Argentiniens in der Hauptstadt sowie in der abgelegenen Nordprovinz Tucumán eintauchen, die mit den Nazis sympathisiert, zum anderen blickt er zurück in das Berlin der Tage vor der Machtergreifung.

… Geschichte …

Zunächst zum Schauplatz Berlin 1932: Kerr schildert bedrückend glaubhaft, wie sich die Schlinge um den Hals von Juden und bekennenden Nicht-Nazis immer mehr zuzieht, wie Behinderte vom Menschen zum unwerten Leben umetikettiert werden, wie der Sozialdemokrat Gunther gegen Windmühlenflügel kämpft angesichts der wachsenden Macht der Braunen in der Polizei. Und obwohl man bereits von Beginn an weiß, dass die Nazis die Aufklärung der beiden Morde aus politischen Gründen verhindert haben, bleibt man am Ball, denn der Autor versteht es, Bernies Spurensuche höchst aufregend zu gestalten: Wenn es der Wahrheitsfindung dient, greift der Detektiv zu unkonventionellen Methoden.

Nun zurück in das Argentinien des Jahres 1950: Nicht dass hier die Spannung nachließe, im Gegenteil: Der frischgebackene Geheimdienstler tappt in diverse Fallen, gerät in die Hände von Folterknechten und muss immer wieder um sein Leben fürchten. Sein Chef, der Colonel, bereitet ihm Kopfschmerzen, denn er spielt mit verdeckten Karten. Obendrein verliebt sich der Deutsche in die bildschöne, russischstämmige Jüdin Anna, was sein Leben auch nicht gerade erleichtert, da sie ihn bittet, ihren o­nkel und ihre Tante aufzuspüren, die gleich nach ihrer Ankunft in Buenos Aires auf mysteriöse Weise verschwanden. Bald sieht sich der Berliner Detektiv in politische Intrigen verstrickt, bei denen es um Nazi-Milliarden auf Schweizer Konten und um den möglichen Massenmord an jüdischen Einwanderern geht. Und da beginnt der Ärger.

Juan Domingo Perón war ein autoritärer Knochen und liebäugelte mit Europas Faschisten, aber ein Diktator, wie Kerr mehrfach behauptet, war er nicht. Dreimal wählten ihn die Argentinier zu ihrem Präsidenten. Die Frauen verdanken ihm das Wahlrecht, und seine Sozialgesetzgebung war damals beispielhaft. Die Opposition hatte es zwar schwer, und so mancher Nicht-Peronist landete im Knast oder hatte unter sonstigen Repressalien, etwa bei der Jobsuche zu leiden. Aber wie Hitler systematisch ausgemerzt hat Perón seine politischen Gegner nicht. Die waren im Übrigen auch keine Pazifisten. Und saßen sowohl im Parlament als auch in der verfassungsgebenden Versammlung, nur hatten sie nicht die Mehrheit. George W. Bush würde Kerr ja wohl auch kaum einen Diktator nennen, weil er zeitweilig in sämtlichen Institutionen die Mehrheit hatte.

… und blühender Unfug …

Man muss Perón weiß Gott nicht mögen, aber muss man ihm deshalb zuschreiben, seine Feinde in Massen über dem Río de la Plata aus dem Flieger geworfen zu haben? Wohl kaum. Diese Art zu morden hat Kerr der Militärjunta abgeschaut, die 1973 Peróns zweite Frau Isabel aus dem Amt geputscht hat. Und diejenigen, die damals ein Grab im Wasser fanden – waren vielfach Peronisten.

Und nun zu den jüdischen Einwanderern. Es stimmt, es gab und gibt Antisemitismus in Argentinien und auch das Circular Nr. 11 existierte, demzufolge ab 1938 keine Menschen jüdischen Glaubens mehr ins Land gelassen werden sollten. Dennoch sind nach Aussagen argentinischer jüdischer Organisationen allein zwischen 1940 – 1959 rund 55.000 der Ihren in Argentinien eingewandert. Wer das Land kennt, weiß, dass Vorschriften dort hauptsächlich dazu da sind, missachtet zur werden.

Kerr baut seinen Roman darauf auf, dass Tausende jüdischer Ankömmlinge damals verschwanden und allem Anschein nach wie in Hitler-Deutschland vergast worden sind. Und das grenzt an Infamie. Die Mehrzahl der Leser kennt sich wohl kaum aus in argentinischer Geschichte – und nimmt Kerrs dem Land angedichteten Genozid womöglich für bare Münze. Da hilft auch die Bemerkung im Nachwort nichts, dass die Handlung des Buches frei erfunden sei. Auch in diesem Nachwort steht zudem Erfundenes – so etwa, dass das Circular Nr. 11 immer geleugnet worden sei. Präsident Néstor Kirchner – ein Peronist – hat es vielmehr 2005 ganz offiziell abgeschafft.

Kerr fehlt es an Kenntnis sowie an Respekt für das Land, über das er schreibt, davon zeugt auch sein Umgang mit der spanischen Sprache. Er zitiert reichlich aus dem Spanischen, aber kaum jemals korrekt und das eine oder andere Wort entstammt vollends seiner Fantasie.
Der Autor hat die Chance vertan, nicht nur einen spannenden, sondern auch einen guten Roman über die Aufnahme von Nazi-Verbrechern – und über Antisemitismus – zu schreiben. Er hätte etwa ein fiktives Land schaffen können. Zumal ja auch andere Länder wie die USA, Paraguay oder Bolivien sich nicht zierten, alte Nazis aufzunehmen, wenn sie ihnen nützlich waren. Aber dafür reichte Kerrs Fantasie dann wohl doch nicht.

Eva Karnofsky

Philip Kerr: Das letzte Experiment (A quiet Flame, 2008). Roman. Deutsch von Axel Merz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Wunderlich 2009. 461 Seiten. 19,90 Euro.