Geschrieben am 5. März 2009 von für Bücher, Litmag

Peter von Matt: Wörterleuchten

Gipfelblick

Kaum jemand schreibt so unterhaltsam über Literatur wie der Schweizer Germanist Peter von Matt. Hier leuchtet nicht nur die Poesie, sondern auch ihre Deutung. Von Gisela Trahms

Über Gedichte schreiben ist schwierig. Kurz und verständlich über Gedichte schreiben ist noch schwieriger, und der Gipfel des Schwierigen ist erreicht, wenn man das tun soll, obwohl man alles über Gedichte weiß. Dann sitzen die meisten Gelehrten im Schlamassel statt auf Berges-Höh’n, und es gelingt ihnen nicht, über den Wissensqualm hinweg auf den Text zu schauen wie am ersten Tag.

Peter von Matt kann das. Seit Jahrzehnten lebt er droben im Licht, eingemummelt in Bücher, und gibt sich der Lust hin. Der fabulierenden Deutungslust, genauer gesagt, und ‚fabulieren‘ heißt hier nicht: schwadronieren oder mit Belesenheit auftrumpfen. ‚Fabulieren‘ heißt: dem Leser etwas erzählen, spannend und wie nebenbei, um ihn auf Augenhöhe mit dem poetischen Text zu hieven. Eine Faktenzufütterung also, aber auch ein Hinweisen und Aufmerksam-Machen, etwa auf die kritischen Untertöne eines Gedichts, seine besonders geglückten Wortzaubereien oder seine Schwächen. Lauter kleine Stupser sind das, lauter Ermunterungen: Schau und hör doch mal, was aus dieser Strophe spricht, wie doppeldeutig oder sehnsüchtig oder herzzerreißend es ist. Lass dich in die Wörter fallen, die Poesie fängt dich auf, und was du schon fühlst, aber nicht genau benennen kannst, flüstre ich dir jetzt ins Ohr.

Sechzig „Solitäre“ (von Matt) enthält der Band, vom 14. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Die zugehörigen Deutungen beschränken sich auf zwei Seiten, der Autor nennt sie „klein“. Das ist natürlich sehr bescheiden, „konzentriert“ wäre wohl treffender, klänge aber längst nicht so einladend. Hören wir mal ein paar O-Töne:

Die Mystik des Spätmittelalters charakterisiert von Matt als „herzheißes Denken“. Der Barockdichter „hört schon die Sense sausen… Er lebt in einem gleißenden Jetzt am Rande der Nacht.“ Kann man Epochen treffender charakterisieren? Zu Eichendorff gehört die „Untergangslandschaft“, die nur zwei Möglichkeiten kannte, „den herrlichen Aufbruch in die Katastrophe oder das philiströse Verharren in einem sinnlosen Jetzt.“ Über die Schlußzeile eines Benn-Gedichts heißt es: „Das Unvergängliche ist als Musik zu denken. Wer widerspricht?“

Niemand. Und niemand wird ohne Bewunderung bleiben für all die Formulierungen, die des Lesers dumpfes Ahnen in die Klarheit führen. Auch für Erheiterndes und Grimmiges ist Platz. So wird endlich die Frage beantwortet, warum Heines „Belsatzar“ die populärste aller Balladen ist: Die Lehrer lieben sie als „die ins Mythische gesteigerte Darstellung einer Schulklasse.., wo der Lehrer vorübergehend fehlt.“ Die Schüler als Knechte, ihr Rädelsführer als Barbarenkönig, den die Strafe ereilt. Und die göttliche Schrift an der Wand? „Wunderbar, wie hier des Lehrers eigenstes Medium zur Apotheose findet. Die Tafel…“ Herrlich! Wären Sie je darauf gekommen?

Im zwanzigsten Jahrhundert liebten die Lesebücher dann kaum ein Gedicht so unisono wie Enzensbergers „Ins Lesebuch für die Oberstufe“ mit seiner nervtötenden Imperativ-Häufung und anmaßenden Besserwisserei. „Lies keine Oden, mein Sohn, lies die Fahrpläne“ – welcher Abiturient wäre davon verschont geblieben? Lapidar konstatiert von Matt: „Die Fahrpläne haben gesiegt.“ Leider, sage ich.
Auf diese Weise könnten wir fort und fort zitieren und preisen. Doch das wäre wohl kaum im Sinne des Schweizer Meisters. Fassen wir uns lieber kurz, winken dankbar hinauf zu seinem Ausguck und pflanzen, frisch erleuchtet, einen Schlusspunkt in die Ebene.

Gisela Trahms

Peter von Matt: Wörterleuchten. Kleine Deutungen deutscher Gedichte.
Hanser Verlag 2009. Gebunden. 224 Seiten. 17,90 Euro.