Geschrieben am 11. August 2008 von für Bücher, Litmag

Peter Stamm: Wir fliegen

All the things we are

Wir fliegen versammelt ausnahmslos Liebesgeschichten. Einige von ihnen funktionieren gewissermaßen über Bande, aber sie gehen immer, wenn auch auf unterschiedliche Art, zu Herzen.

Ein Junge wird nicht aus dem Hort abgeholt. Die Erzieherin nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Sie warten.
Eine Frau hört Schritte in der Wohnung über ihr. Das Knarren des Fußbodens wird zu einer Anwesenheit.
Menschen ahnen, dass ihr Leben aus dem Ruder oder in die falsche Richtung gelaufen ist, oder sie erkennen, dass es keine falsche Richtung gibt, solange man bei sich ist, und natürlich liegt jetzt ein Wort nahe, dass fast zwangsläufig fällt, wenn man über Peter Stamms Geschichten spricht. Dieses Wort findet sich auch im Klappentext, in Rezensionen, es heißt „Alltagsgeschichten“ und ist meilenweit davon entfernt, das zu benennen, was in Peter Stamms Prosa passiert.

Wir fliegen ist bereits der dritte Band mit Erzählungen des 1963 geborenen Schweizers. Wie Ralf Rothmann veröffentlicht er in schöner Regelmäßigkeit abwechselnd einen Roman und einen Band mit Geschichten; wie Ralf Rothmann hat Peter Stamm seine Sprache schon früh gefunden, seitdem verfeinert er sie, von einer Veränderung kann nicht die Rede sein. Warum auch: Rothmann und Stamm gehören zu den herausragenden Stilisten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, ihre Prosa zu lesen ist ein fast religiöses Erlebnis. Mit maximaler erzählerischer Ökonomie und Virtuosität umkreisen beide die Dinge des täglichen Lebens – auf eine Art, die einer Meditation gleichkommt, in der Präzision und Konzentration zur Transzendenz führen.

Unterschied zwischen Alltagsgeschichten und alltäglichen Geschichten

Doch während bei Rothmann das Religiöse Teil des erzählerischen Programms ist, scheint sich Stamm regelrecht dagegen zu wehren. Beide erzielen mit fast identischen Mitteln ähnliche Ergebnisse, die zugrunde liegende Anschauung jedoch ist verschieden. Ein Unterschied, der sich im Ton, in der Geschmeidigkeit der Sprache niederschlägt: Bei Rothmann klingt und federt sie, bei Peter Stamm kommt sie knochentrocken, spröde und oft erschreckend lakonisch daher.

Die Geschichte „Kinder Gottes“ zum Beispiel verhandelt nicht weniger als die mögliche Rückkehr des Herrn; es ist die Geschichte einer unbefleckten Empfängnis, eines Pfarrers, der die heilige Jungfrau bei sich aufnimmt, um sie zu schützen – und letztlich dem Reiz ihres Fleisches verfällt. Es ist eine mutige, ganz und gar nicht alltägliche Geschichte voller religiöser Motive, biblischer Zitate und gesellschaftlicher Tabus. Von der Anlage her böte sie die ideale Plattform für einen platten Generalangriff auf die Doppelmoral der katholischen Kirche, doch die Nüchternheit, das Fehlen jeglicher Wertung oder Empathie macht den Text zu einem kalt funkelnden Juwel, dessen Brillanz sich in der Irritation des Lesers spiegelt.

Leidenschaftliche Gleichgültigkeit

Wir fliegen versammelt ausnahmslos Liebesgeschichten. Einige von ihnen funktionieren gewissermaßen über Bande, aber sie gehen immer, wenn auch auf unterschiedliche Art, zu Herzen.

Die letzte Geschichte „In die Felder muss man gehen…“ präsentiert einen Maler und seine Kunst; im Grunde aber ist es die kaum verschlüsselte Poetologie der Stamm’schen Prosa: „Dein Blick ist kalt, aber nicht gefühllos. Die Kälte des Blicks ist Bedingung. Du darfst nicht mitschwingen, wenn du klar sehen willst… Du arbeitest aus einer leidenschaftlichen Gleichgültigkeit heraus.“

Vielleicht ist es gerade die entschiedene Kälte des Blicks, die beim Leser Gefühle erzeugt, genauso wie es die Leerstellen sind, die Bilder entstehen lassen. Vielleicht ist es gerade die konsequente Verhaftung in der Dingwelt, die diese Texte abheben lässt.

Denn dass sie trotz ihrer Schmucklosigkeit an jeder Stelle funkeln und blitzen, ist ein Indiz dafür, dass hier perfektes Handwerk aufhört und große Kunst beginnt. Ab diesem Punkt versagen Erklärungen. Oder sie werden peinlich. Man kann sich dann nur noch verneigen. Auch, wenn das jetzt religiös klingt.

Stefan Beuse

Peter Stamm: Wir fliegen. Erzählungen. S. Fischer 2008. 175 Seiten. 17,90 Euro.