Geschrieben am 20. Oktober 2012 von für Bücher, Crimemag

Lee Child: The Affair & A Wanted Man

Mit Klappzahnbürste und innerer Uhr:
Jack Reachers konsequenter Kampf gegen das Böse

– Was ist so bestechend an Lee Childs Thrillern und an seinem Anti-Helden Reacher? „The Affair“ beschreibt Reachers Vorgeschichte und das Ende seiner langen Dienstfahrt als Militärpolizist, während der neueste Band „A Wanted Man“ überzeugend demonstriert, warum „das Reacher-Prinzip“ noch nie so wertvoll war wie heute … Von Peter Münder

Wenn Jack Reacher nach einem langen Trip am Ziel angekommen ist, bereitet ihm das Gepäckauspacken keine besondere Mühe: Er hat nämlich nur seine Klappzahnbürste dabei. Wenn er die Wäsche wechseln will oder eine neue Hose braucht, wirft er im PX-Laden oder im billigen Store seine gebrauchten Klamotten einfach weg und kauft sich neue. All den Ballast, den wir immer und überall mit uns herumschleppen – auch den mentalen Müll – hat Reacher längst abgelegt. Eine Armbanduhr braucht er nicht, weil er sich hundertprozentig auf seine innere Uhr verlassen kann, die immer mitläuft. Er muss keine Immobilienkredite bedienen, er hat keinen festen Wohnsitz, keinen Ausweis, kein eigenes Auto, er geht keine festen Bindungen ein und hat nach dem Tod der Eltern und seines Bruders (ein Spezialist für das Aufspüren von Falschgeldherstellern) auch keine Familienangehörigen mehr.

Paranoide Zeiten

Ist dieses Konzept eines beinah anarchischen freien Vagabundierens überhaupt noch mit dem American Dream und dem Streben nach Wohlstand, Berufserfolg, Status-Symbolen vereinbar? Mit diesem abgeklärten Reacher-Minimalismus könnten manche Zen-Mönche kaum noch mithalten. Sein einziger Schwachpunkt: Er ist Kaffee-Freak und braucht regelmäßig einen kräftigen Schwarzen – ohne alles. Ohne Koffein-Konsum hat Reacher größere Probleme, als wenn ihn sechs Typen zusammenschlagen wollen. „Ich bin sehr von euch enttäuscht“, verhöhnt er die sechs dumpfbackigen Möchtegern-Schläger in „The Affair“ (2011), die ihn fertig machen wollen, “auf ein Dutzend war ich vorbereitet“ – und dann setzt er diese tumben Terminator-Tollpatsche, die es auf ihn abgesehen hatten, in kurzer Zeit außer Gefecht.

Lange vor den Terror-Attacken vom 11. September, die den Ausbau neuer gigantischer Kontroll- und Überwachungs-Apparate beflügelten, war Reacher immer schon ein entschiedener Gegner paranoider Kontrollmechanismen: In bester amerikanischer Pioniertradition will er einfach nur seinen Weg gehen, ohne die dämlichen Fragen von Hobby-Paranoikern zu beantworten. Als penetrante Aufdringlichkeit und Bevormundung versteht er Fragen nach dem Woher und Wohin oder „Wer bist Du“? Wenn er sich im Hotel oder einem Motel registrieren muss, schreibt er auf die Meldekarte meistens den Namen eines früheren US-Präsidenten oder eines Baseball-Stars. Dabei memoriert der Faktenhuber automatisch die durchschnittliche Schlagrate des Sportlers oder die biographisch-historischen Eckdaten des Präsidenten.

Der Einzelkämpfer Reacher würde übrigens auch nie eine von staatlichen Instanzen zwangsverordnete Krankenversicherung akzeptieren. Daher wirkt Reacher in diesen Zeiten, da kaum noch ein alltäglicher Vorgang unkontrolliert oder ohne bürokratische Richtlinien abläuft, wie die störrische Inkarnation eines prähistorischen Anachronismus. Ihm selbst kommt es so vor, als wäre er der einzige, der die Erde für rund hält, während alle um ihn herum den Globus als flache Platte sehen. Was für die Leser von heute eben auch das Flair eines angenehm prickelnden, nostalgischen Ideals vermittelt: Wer wollte sich nicht gern den nervtötenden Zwängen von Bürokraten und Besserwissern widersetzen und als „Lonesome Hero“ einfach seinen eigenen Weg gehen? Aber wer traut sich das schon? Gibt es vor Big Brother kein Entkommen mehr?

Steinzeit-Fascho?

Der erste Reacher-Thriller „Killing Floor“ war auch literarisch-stilistisch eine Offenbarung: Man nehme nur die ersten Sätze: „I was arrested in Eno’s diner. At twelve o’clock. I was eating eggs and drinking coffee. A late breakfast, not lunch. I was wet and tired after a long walk in heavy rain“… Jeder Satz ein Hammerschlag, der den Leser sofort in einen faszinierenden Sog zieht. Die Exposition enthält schon mehrere Spannungsmomente, die direkt auf einen dramatischen Konflikt zusteuern. Das mag nicht besonders subtil entwickelt sein – auf eine Memory- Madeleine von Marcel Proust kann man in Reachers Coffee Shop lange warten – aber die grundsolide verabreichten Hammerschläge bringen alles auf den Punkt. Und treiben die Action voran! Alles klar so weit?

Viele amerikanische Kritiker sind wohl auch deswegen so begeistert von dieser heroischen Figur, weil sie glauben, hier endlich eine US-Version des coolen Briten James Bond vor sich zu haben. Dabei hat Reacher (auf seinen Vornamen legt er keinen großen Wert) mit gequirltem oder geschütteltem Martini oder einem Aston Martin mit MGs in den Scheinwerfen ebenso wenig am Hut wie mit raffinierten Designerklamotten oder anderem Status-Schnickschnack. Er ist einerseits eine schlichte moderne Brutalo-Version von Robin Hood, andererseits schreckt er auch nicht davor zurück, skrupellose Killer, die harmlose Underdogs schikanieren oder umbringen, einfach zu zerquetschen: „Über beseitigte Kakerlaken mache ich mir ja auch keine großen Gedanken“, erläutert er seine Einstellung. Hört man da im Hintergrund schon die barmherzigen Samariter, Schöngeister, Bewährungshelfer und Tierschützer entsetzt aufheulen und „Steinzeit-Fascho !“ brüllen?

Der neueste Band „A Wanted Man“ ist der 17. Reacher-Thriller des ehemaligen britischen TV-Produzenten (bei Granada-TV) Lee Child, (Pseudonym für Jim Grant) der 1995 plötzlich gefeuert wurde und sich von England sofort nach New York absetzte, wo er seitdem mit seiner amerikanischen Ehefrau lebt, wenn er sich nicht in seiner Villa in St. Tropez erholt . Seinen ersten Band „Killing Floor“ mit dem Ex-Militär-Cop und West-Point-Absolventen Reacher veröffentlichte Lee Child, der 1954 in Coventry geboren wurde und in Sheffield Jura studiert hat, schon 1997. Da wird Reacher im kleinen Puppenstuben-Nest Margrave in Georgia plötzlich verhaftet – die Bewohner dieser properen, mysteriösen Idylle sehen ihn als störenden Fremdkörper, wollen ihm einen Mord anhängen und ihn am liebsten liquidieren. Es stellt sich heraus, dass der im Geld schwimmende aggressive Cliner-Clan den Ort mit Dollars geradezu zuschüttet und vom Sheriff bis zum Coffee Shop alles unter Kontrolle hat. Reacher geht ein hohes Risiko ein, um das gefährliche Geheimnis dieses Clans zu lüften.

Wut im Bauch

Child hatte dieses Buch mit einer unheimlichen Wut im Bauch geschrieben und hochbrisante, explosive Szenen mit einer perfekten Dramaturgie konsequent entwickelt. Er hatte in England siebzehn Jahre lang so erfolgreiche TV-Serien wie „Für alle Fälle Fitz“, „Prime Suspect“ u.a. betreut und fühlte sich bei Granada TV ungerecht behandelt und durch angeblich unvermeidliche Restrukturierungsmaßnahmen regelrecht „entsorgt“. Deswegen hat er wohl auch in seinen Thrillern mit einem furiosen mentalen Löschprogramm alle Spuren seiner britischen Herkunft getilgt – erst in „The Hard Way“ (2006) führt der Weg von New York aus zu englischen Schauplätzen, als Reacher einen Entführungsfall für einen britischen Sicherheitsexperten aufklärt. Da werden dann einige britische Söldner als verlogene, völlig mißratene Neandertaler-Mutationen vorgeführt, weil sie ihre Kameraden beim Einsatz in Afrika in eine tödliche Falle laufen ließen, nur um sich einen Haufen Kohle unter den Nagel zu reißen.

Reachers rastloses Herumdriften im Land – er fährt ja gern mit dem Greyhound-Bus durch die Staaten oder er trampt entlang öder Highways, weil der Flieger wegen der nervtötenden Kontrollen nicht in Frage kommt – hatte auch Lee Child lange Zeit genossen. Der britische Autor wollte nämlich systematisch alle US-Staaten bereisen, um in seinen Thrillern die Atmosphäre der Landschaften und der Städte möglichst authentisch einzufangen – was ihm ja auch grandios gelungen ist. Doch so genügsam wie sein Held dürfte der millionenschwere Lee Child wohl kaum sein. Reacher sucht die Weite der Prärie, mampft genügsam seine doppelten Cheeseburger, trinkt seinen schwarzen Kaffee und hat mit Edel-Cuisine nichts am Hut. Auch Reacher, der übrigens auf dem West-Berliner US-Stützpunkt geboren ist, war ja wie Child plötzlich gefeuert worden: Er hatte sehr konsequent gegen skrupellose und korrupte hohe Militärs und prominente Politiker ermittelt und war wegen seiner „Nestbeschmutzer-Mentalität“ zum Captain degradiert worden. Dann wurde er wieder in den Rang eines Majors zurückversetzt, doch inzwischen hatte sich Reachers Begeisterung für den Dienst und die eindeutigen Grenzen zwischen Gut und Böse merklich abgekühlt. Außerdem sollte er nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Krieges im Rahmen massiver Truppenreduzierungen freigesetzt werden – also quittierte er den Dienst.

Ausgerechnet Cruise

Seit dem erfolgreichen Debüt von „Killing Floor“ erscheint jedes Jahr ein neuer Reacher-Band: Die Gesamtauflage beläuft sich inzwischen auf ca. 37 Millionen Exemplare, die Bücher sind in über dreißig Fremdsprachen übersetzt. Hollywood hat den Reacher-Faktor auch entdeckt und schickt nun ausgerechnet den kleinen, schmächtigen Scientology-Bubi Tom Cruise als Reacher in die Jagd auf die Bösen: In „One Shot“ ( 2005, dt. Titel: „Sniper“) bringt Reacher einen psychopathischen Heckenschützen zur Strecke, der fünf Menschen umgebracht hat. Tom Cruise als Reacher: Auf diese groteske Fehlbesetzung muss man erstmal kommen! Aber der Autor kassiert einfach nur diskret und sondert höfliche Kommentare ab: „Diesmal wird Reacher eher mit dem Skalpell gezeigt als mit dem Vorschlaghammer“ erklärte Lee Child auf einer Lesereise in Australien.

Obwohl die Thriller ja über den Mikrokosmos eines individualistischen Überlebenskünstlers und Darwinisten hinaus gehen, bleibt das Grundmuster der Romane eher simpel gestrickt. Lee Child hat ein genaues Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen und thematisiert Unabhängigkeitsbestrebungen oder die Rivalität zwischen den verschiedenen amerikanischen Geheimdiensten genauso akribisch und kritisch wie etwa die kriminellen Machenschaften von Politikern, die glauben, über und außerhalb der Gesetze zu stehen. Im zweiten Band „Die Trying“ (1998) wird Reacher in einen Entführungsfall verwickelt und nimmt den Kampf gegen eine militante Neofaschisten-Gruppierung auf, die sich im abgelegenen Montana von Washington lösen und mit brutaler Waffengewalt eine unabhängige Republik gründen will – eine nicht ganz unwahrscheinliche, zugespitzte Darstellung einer Entwicklung, die von durchgeknallten Tea Party-Freaks durchaus initiiert werden könnte. Und in „Gone Tomorrow“ (2009) trifft Reacher ausgerechnet in der New Yorker U-Bahn auf eine weiße Selbstmordbomberin und muss sich mit Terroristen auseinandersetzen.

Da der 1,95 Meter große, sehr robust gebaute Held die Bösen nach blutigen, spannenden Scharmützeln und haarsträubenden Bewährungsproben zuverlässig beseitigt, fragt sich der Leser natürlich schon: Was ist das Geheimnis der Reacher-Faszination? Das Meistern einer waghalsigen Gratwanderung zwischen absoluter Aussichtslosigkeit und erfolgreicher Krisenbewältigung ? Die Lässigkeit, mit der Lee Child seinen archaischen Außenseiter als altmodischen Western-Held in komplexen Hi-Tech-Strukturen mit ausgetüftelten Hierarchien überleben und darüber noch selbstironisch spotten lässt? Der Einfallsreichtum des Pragmatikers, der noch in gefährlichsten Situationen kalkuliert, welche Chancen er zum Überleben hat?

Reacher scheint ja wie ein oberschlauer Ballistiker oder Rüstungstechniker zu dozieren, wenn er über technische Schwachpunkte eines Gewehrs oder einer Pistole grübelt, die Flugbahn und Geschwindigkeit von Patronen memoriert- und er all das vollbringt, während sein Gegner ihn gerade erschießen will !

Auch in „A Wanted Man“ ist Reacher wieder als Tramper unterwegs – ausgerechnet nachts im winterlichen Nebraska – als er von drei merkwürdigen Leuten am Highway aufgegabelt wird. Es sind zwei Männer und eine eingeschüchterte Frau, alle drei tragen blaue Hemden, die Reacher zuerst wie die Einheitskluft einer Firma vorkommen. Ist das Trio vielleicht auf einer Dienstfahrt, nehmen sie an einer Incentive-Tour teil? Doch als sie dann in Polizeisperren geraten und die latente Spannung unter allen Passagieren immer extremer wird, deutet sich an, dass die Frau ein Entführungsopfer ist – aber wer sind die beiden dubiosen Typen? Der „wanted man“, nach dem gefahndet wird, ist übrigens Reacher: Er hat eine völlig lädierte Nase, sieht total derangiert aus und ist eo ipso schwer verdächtig. Und plötzlich muss er registrieren, dass er mitten in einem unübersichtlichen terroristischen Plot steckt und es offenbar mit einer Bande schwerbewaffneter ausländischer Terroristen zu tun hat, der die CIA und das FBI ziemlich hilflos und zerstritten gegenüber stehen.

Die Zäsur

„The Affair“ (von 2011) markiert insofern eine Zäsur, als Child hier Reachers Vorgeschichte bis zum Ende seiner Karriere als Militärpolizist beschreibt, eine Art Steckbrief bzw. kurzen Lebenslauf liefert („Ausbildung in Schulen auf Militärstützpunkten, West Point, sechs hohe und viele andere „Junk“-Orden, Größe 1,95 Meter, ohne Führerschein, Steuererklärungen und Kreditkarten, Waffen-Spezialist, Fremdsprachen: Französisch und passables Spanisch“) und in der angehängten Kurzgeschichte „Second Son“ eine entscheidende Phase des 13jährigen Reacher darstellt. Damals war sein Vater Stan als Captain der Marines vom Stützpunkt Guam gerade nach Okinawa beordert worden. Die Familie war wie immer bei den früheren rund vierzig Umzügen zwischen den USA, Europa und Asien mitgezogen: Die aus Frankreich stammende Mutter Josephine und der geliebte Bruder Joe. Das Schlüsselerlebnis ist die Konfrontation mit einer aggressiven Gang amerikanischer Jungs, deren Väter ebenfalls auf dem japanischen US-Stützpunkt eingesetzt sind. Reachers intellektueller, aber zartbesaiteter Bruder wird gleich nach der Ankunft von einem Schlägertypen eingeschüchtert, der „Wegezoll“ verlangt – sonst setzt es Prügel. Da Reacher diese Situation des ausgegrenzten, abgelehnten Newcomer-Außenseiters eigentlich auf allen Stützpunkten erlebte und sich immer erst in Schlägereien als tough guy und Beschützer des Bruders beweisen mußte, ist diese Konfrontation für ihn ein eher lästiges Ritual, das er souverän absolviert: Sein Kontrahent landet mit gebrochenen Rippen und ausgekugeltem Arm im Krankenhaus, außerdem hat ihn der clevere Reacher noch als perfiden Trickser überführt, der seinen Vater Stan als Verräter denunzieren wollte.

Reacher hat hier also schon als 13-jähriger Junge gezeigt, welche detektivischen Ermittler-Fähigkeiten in ihm stecken. Während sein Bruder Joe später dann im Treasure Department Jagd auf Falschgeldhersteller macht, wird Reacher also Militärpolizist. Er schlägt zwar brutal zu, wenn er provoziert wird – aber es ist eben immer ein Akt der Selbstverteidigung. Diese Grunderfahrung einer massiven Ablehnung – eine nicht gerade sehr amerikafreundliche Interpretation – variiert Lee Child in mehreren Bänden: Die Spannung wächst dabei rapide, der Konflikt eskaliert schließlich bis zum dramatischen Showdown mit etlichen Leichen, weil die Bösen und die tumben Brutalos einfach keine Ruhe geben. Sie halten sich für stärker als der isolierte Einzelkämpfer Reacher und meinen daher, die Daumenschrauben immer weiter anziehen zu können. Child hatte nach fünfzehn veröffentlichten Reacher-Bänden offenbar den Eindruck, bisher zu spärliche biographische Details seines Serienhelden vermittelt zu haben.

„The Affair“ spielt 1997 in Mississippi, wo Reacher im Umfeld einer Kaserne der US-Army als Undercover-Ermittler den Mord an drei jungen Frauen aufklären soll. Er lässt sich auf eine heiße Affäre mit Elizabeth Devereaux ein – sie ist der weibliche Sheriff im kleinen Nest Carter Crossing und so ähnlich gestrickt wie Reacher selbst: Tough, selbstbewußt, hilfsbereit und mit einem scharfen analytischen Verstand gesegnet. Gegenüber Vorgesetzten, Besserwissern und bornierten Wichtigtuern zeigt sie eine ebenso gnadenlose Unnachgiebigkeit. So entwickelt sich eine enge Zusammenarbeit und eben ihre Affäre. Verwickelt wird der Fall, als sich herausstellt, dass der Sohn eines prominenten Senators in die Mord-Affäre verwickelt sein könnte und es Bestrebungen bei der Army gibt, alles zu vertuschen. Das lässt Reacher natürlich nicht zu, was zu einem ebenso blutig-spektakulären wie konsequenten Showdown führt.

Lee Child hat die komplexen amerikanischen Verhältnisse, dieses Oszillieren zwischen locker-harmlosem Wandervogel-Dasein und paranoider Kontrollmanie, die Exzesse martialischer Waffen-Freaks, die ins Religiöse driftende materialistische Obsession, aber auch die Offenheit und die Großzügigkeit der meisten Amerikaner wohl so präzise und einfühlsam erfassen können, weil ihm sein cooler britischer Blickwinkel zu einer kritisch-distanzierten, aber auch verständnisvollen Perspektive verhalf.

Der Reacher-Faktor

Nach der jahrzehntelang erduldeten kleinkarierten Enge in Shakespeare’s own country und dem plötzlichen Ende seiner TV-Karriere konnte er sich bei seinen Rundfahrten durch die Staaten selbst ein Bild machen und sich auf neue Erfahrungen in den USA einlassen. Der Reacher-Faktor als Quintessenz seiner siebzehn Bände ist in diesem Substrat aus Begeisterung und Aversion, Offenheit und Mißtrauen, Einzelkämpfertum und gemeinsam erlebter Pionier-Dynamik enthalten. Natürlich setzt Reacher auch die von Chandler gepflegte Tradition des weißen Ritters fort: Auf schäbigen Straßen und Highways ist auch hier wieder, wie ehedem Philip Marlowe, „ein Mann unterwegs, der selbst nicht schäbig ist, eine weiße Weste hat und keine Angst. Reacher ist die überzeugende moderne Version von Philip Marlowe: „Er ist der Held; er ist schlechthin alles“, hätte Chandler sicher auch über Reacher gesagt. Auch wenn ihm dessen Waffentick, seine Fixierung auf das Kaliber eingesetzter Kanonen und deren ballistische Qualitäten eher auf den Geist gegangen wären.

Peter Münder

Lee Child: The Affair. London: Bantam Press 2011. 606 Seiten. 7,49 Euro.
Ders.: A Wanted Man. London: Bantam Press 2012. 428 Seiten. 15, 99 Euro.
Mehr zu Jack Reacher hier, hier und bei kaliber.38. Homepage von Lee Child. Porträfoto: Sigrid Estrada/Quelle.

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