Geschrieben am 29. September 2012 von für Bücher, Crimemag

Patrick Tschan: Polarrot

Der Deserteur von Toggenburg

Patrick Tschans zweiter Roman „Polarrot“ ist ein historischer Polit-Thriller, der in einer eleganten und eigenwilligen Tradition steht – Thomas Wörtche freut sich darüber …

Der Roman fängt an wie eine leicht pornographische Variante von „Felix Krull“, mit Anklängen an den „Zauberberg“ und einem Hauch von Simplicius Simplicissimus, aber nicht erschrecken: „Polarrot“ von Patrick Tschan ist kein Meta-Roman, keine Zitatorgie, überhaupt gar nichts Kompliziertes. Im Gegenteil, „Polarrot“ ist eine Art heiterer historischer Polit-Thriller, elegant gemacht, zwischen Tragik und Komik leichtfüßig hin- und hertanzend und auch noch mit intelligenter Moral von der Geschicht’ ausgestattet.

Jack Breiter ist ein armer Mann aus dem Toggenburg, der in den 1920er Jahren nach oben will. Als Page im mondänen Grand Palace Hotel St. Moritz gelingt ihm das beinahe, denn seine Anziehungskraft auf weibliche Hotelgäste ist beträchtlich. Aber ach, Jack Breiter übertreibt es und wird als Hochstapler und Heiratsschwindler vom Hof gejagt. Nach ein paar Jobs, bei denen ihm eine gewisse Art sozialer Geschmeidigkeit und überzeugende Schauspielerfähigkeiten von großem Nutzen sind, landet er als Handlungsreisender bei einer Basler Farbenfabrik, der I.P. Gugy AG (bei der wir durchaus an Ciba Geigy denken dürfen) und landet seinen dicksten Coup: Die gerade ihre Macht stabilisierenden Nazis haben für ihre Hakenkreuzfahnen einen riesigen Bedarf an einer bestimmten Textil-Farbe: Polarrot.

Farbe für die Nazis

Gugy kann sie herstellen, Jack Breiter, von ideologischen Skrupeln so wenig tangiert wie die Leitung der Chemie-Fabrik, kann sie in unbegrenzten Mengen beschaffen. Man ist im Geschäft, und zwar im großen Maßstab. Dann kommt die Liebe dazwischen – Charlotte, die Gattin der Firmenchefs, verführt Jack Breiter. Sie weiß, dass sie als „Halbjüdin“ notfalls der Geschäfts-Raison geopfert werden wird, sollten die Nazis darauf bestehen, nur mit „judenfreien“ Geschäftspartnern zu kooperieren. Breiter fängt an, Vermögenswerte vulgo Gold für einen jüdischen Onkel aus Deutschland herauszuschaffen (nicht ohne ein wenig für den Eigengebrauch abzuzweigen) und wird, wie’s der Zufall und die zu große Selbstsicherheit will, erwischt. Er verschwindet im Nazi-Kerker. Und wie der arme Mann vom Toggenburg (hier liegt der tiefere Sinn der Anspielung auf Ulrich Bräkers Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert, die zum Grundbestand der europäischen Literatur zählen, weil dort zum ersten Mal die „unteren“ Schichten authentisch zu Wort kommen) aus der friderizianischen Armee, in die man ihn am Anfang des Siebenjährigen Krieges gepresst hat, desertiert, so desertiert auch Jack Breiter, als er wieder frei kommt, gedanklich aus seinem Weltbild der Karriere und großen Geschäftemacherei.

Grenzerfahrungen

Er verkrümelt sich ins Jura, an die schweizerisch-französische Grenze und fängt wieder an, Geschäfte zu machen. Diesmal allerdings mit der Resistance, die Leute heimlich in die Schweiz schmuggelt. Das ist doppelt gefährlich, nicht nur wegen der deutschen Besatzer auf der französischen Seite, sondern auch wegen der Schweizer Staatsmacht, die dazu übergeht, illegale Einwanderer direkt an die Deutschen auszuliefern. Ein unappetitliches, in der Schweiz trotz der „Das Boot ist voll“-Debatte der frühen 1980er immer noch eher unbeliebtes Thema, das Tschan da auch noch ohne erzählerische Bleischwere behandelt.

Grace under pressure

Mehr wird jetzt von der Handlung nicht verraten, nur so viel, dass Breiter weniger geläutert denn wütend anfängt, seine Fähigkeiten in den Dienst einer guten Sache zu stellen. Ironie, Witz, eine sarkastische Melancholie, das trotzige und lebensfreudige Bewahren gewisser zivilisatorischer Standards (gutes Essen und Trinken, zum Beispiel, und anständige sanitäre Anlagen) auch in Zeiten von Gefahr und größter Not, grace under pressure sozusagen, stellen „Polarrot“ in die Tradition eines  singulären deutschen Polit-Thrillers: „Es muss nicht immer Kaviar sein“ von Johannes Mario Simmel, der 1960 gezeigt hat, dass man mit der Geschichte auch witzig und komisch umgehen kann, ohne sich moralisch zu diskreditieren, gerade wenn man konventionalmoralisch geschmeidige, lebenspraktische Überlebenskünstler zu Hauptfiguren und „Helden“ ernennt.

Patrick Tschan (Quelle: patricktschan.ch)

„Polarrot“ ist kein Remake des „Kaviar“, aber der Roman hat denselben Geist. Deswegen steht er auch quer zu dem, was wir heute oft als historischen Thriller verstehen sollen, das aber lediglich Kolportage im musealen Gewand ist.

Insofern steht er auch für eine Facette von Kriminalliteratur, die als solche gar nicht mehr auf den ersten Blick erkannt wird, wenn nicht die Paratexte darauf hinweisen. Aber „Polarrot“ betreibt genau deren Geschäft – Gewalt und Verbrechen auf den verschiedensten Levels von Gesellschaft, Individuen und Zeit erzählerisch und gleichzeitig unterhaltend zu reflektieren.

Tschans Roman ist eine kleine Perle eines kleinen, aber charmanten Sub-Genres, feine Literatur.

Thomas Wörtche

Patrick Tschan: Polarrot. Roman. Wien: Braumüller Verlag 2012. 365 Seiten. 21,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch. Zur Homepage des Autors.

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