Aufräumen mit Vorurteilen
– Warum geht es den Roma in Osteuropa so schlecht? Der langjährige Balkan-Korrespondent Norbert Mappes-Niediek unterwirft die Stereotypen und bekannten Klischees einem Faktencheck. Von Joachim Feldmann.
In der vierten Szene von Bertolt Brechts Schauspiel „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“ nimmt der Makler Sullivan Slift die Titelheldin mit zu den Fleischfabriken, um ihr die Schlechtigkeit der Armen zu demonstrieren. Und tatsächlich mangelt es nicht an Beispielen für rohes, hartherziges und egoistisches Verhalten der Proletarier. Allein die resolute Johanna lässt sich nicht beeindrucken. Nicht „der Armen Schlechtigkeit“ habe Slift ihr gezeigt, sondern „der Armen Armut“. Die wiederum, würde der Marxist Brecht pfeilgrad schließen, ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse sei.
Hätte der Stückeschreiber die nicht erst seit Neuestem beklagenswerte Situation der osteuropäischen Roma zu beurteilen, würde er sich wahrscheinlich der Gruppe der „Soziologen“ anschließen. „Die Roma“, argumentieren diese, „standen immer am untersten Rand der Gesellschaft. Es war ihnen zum Beispiel versagt, lesen und schreiben zu lernen. Diesen Mangel nun zu etwas Schützenswertem aufzuwerten und ihn gegen die ‚reiche mündliche Überlieferung aufzurechnen, sei bloß ein subtiles Mittel, die Roma in ihrem Elend und ihrer Rückständigkeit gefangen zu halten.“ Ein Vorwurf, der sich an die Adresse der „Roma-Ethnologen“ richtet, die sich vehement für das Recht, „sich in seiner eigenen Kultur zu verwirklichen“, einsetzen.
Beide Auffassungen gibt es in einer „freundlichen“ und einer „unfreundlichen“ Variante, wie der Balkan-Experte Norbert Mappes-Niediek in seinem erhellenden Buch „Arme Roma, böse Zigeuner“ ausführt, aus dem auch die obigen Zitate stammen. Ein „Ethnologe“ mag dann auch schon mal vom „genetischen Hang zum Stehlen“ schwadronieren, während sich mit „soziologischen“ Argumenten gegebenenfalls auch Umerziehungsmaßnahmen rechtfertigen ließen. Mappes-Niediek hat sich für einen anderen Weg entschieden. Wer überprüfen will, „was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt“, wie der provokante Untertitel seines Buches lautet, muss sachlich und differenzierend vorgehen. Und schon stellt sich die Situation erheblich komplizierter dar als gedacht.

vermutete Migration der Roma nach Europa
Allein die Frage, ob sich überhaupt von einem Volk der Roma sprechen lässt, ist kaum eindeutig zu beantworten, obwohl dies von einiger politischer Konsequenz wäre. Mappes-Niediek weist darauf hin, dass beispielsweise in den sechziger und siebziger Jahren viele Gastarbeiter, die aus dem damaligen Jugoslawien in die Bundesrepublik kamen, Roma waren, aber nicht als solche wahrgenommen wurden. In Ceaucescus Rumänien wurden Roma – manchmal unter Zwang – ins Arbeitsleben integriert. Ähnliche Strategien gab es zur damaligen Zeit in Ungarn und der Tschechoslowakei. Doch damit hatte es ab 1989 ein Ende. Die sozialen Verwerfungen infolge des ökonomischen und politischen Zusammenbruchs des „Ostblocks“ trafen die Roma, die sich bereits am unteren Ende der sozialen Leiter befanden, besonders hart.
Also doch die „Soziologie“? So einfach macht es sich Mappes-Niediek nicht. Geschichte und Kultur der Roma werden ebenso berücksichtigt, und mit definitiven Urteilen hält sich der Autor wohltuend zurück. Überzeugt ist er allerdings davon, dass das „Roma-Problem“ nur einen Aspekt der schwierigen Lebensverhältnisse in den osteuropäischen Staaten darstellt, denen man am besten mit einem umfassenden Infrastrukturprogramm begegnen sollte. Ein Vorschlag, dessen Realisierung angesichts der aktuellen politischen Lage wahrscheinlich fern liegt. Es ist also kein übermäßig optimistischer Ausblick, mit dem dieses ebenso informative wie spannende und, das muss auch gesagt werden, stilistisch sehr ansprechende Buch zu Ende geht. Die Zeiten, da Aufklärung noch triumphierend daherkommen konnte, sind allerdings auch längst vorbei.
Joachim Feldmann
Norbert Mappes-Niediek: Arme Roma, böse Zigeuner. Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt. Christoph Links Verlag 2012. 16,90 Euro. Grafik: wikipedia.