Protestantenland
– Nora Bossong durchstreift in ihren verstörenden Gedichten Landschaften, Parks, ihre Heimatgegend um Bremen, doch ein unberührtes Arkadien findet sie nirgends. Von Carl Wilhelm Macke
Das Bild auf dem Cover des Gedichtbands von Nora Bossong führt die Leser – gewollt oder ungewollt – in die Irre. Wir sehen dort den Stamm einer Birke auf einer Frühlingswiese. Den ganzen Baum muss man sich hinzudenken. Weder entdecken wir seine Blätter noch seine Wurzel auf dem Bild. Man könnte es für ein allzu romantisches Motiv aus der jüngsten Ausgabe der „Bäckerblume“ halten: gut ausgesucht für die Frühjahrsedition eines Gedichtbands. Liest man dann aber die Gedichte, verliert der Band rasch seine durch das Coverbild evozierte scheinbar romantisierende, idyllische Färbung.
Zwar durchstreift Nora Bossong immer wieder Landschaften, Parks, ihre Heimatgegend rund um Bremen („Protestantenland“), aber ein unberührtes Arkadien findet sie nirgends. Für sie sind die wunderbar prosaisch ausgemalten Naturbilder oft nur Kulissen, durch die das poetische Ich streift, sich und sein Gegenüber wahrnimmt, um dann auch wieder die scheinbare Idylle zu verlassen. „Ich fühle mich kaum noch/ und wuchere dennoch/ über meine Natur hinaus, ein Haufen Laub.“ Dass die Autorin in Bremen geboren wurde, ist in einigen ihrer Gedichte spürbar. Die „Bremer Stadtmusikanten“ werden in einer Kapitelwidmung zitiert: „Zieh lieber mit uns fort,/ Was Besseres als den Tod/ findest du überall.“ Sie könnte das Motto des gesamten Bandes sein. In dem Kapitel „Besetzte Bezirke“ tragen die Gedichte Titel wie „Worpswede“, „Weyhe“, „Tenever“ – alles im Umland von Bremen bekannte Namen: „Es ist so spät in dieser flachen Gegend – und alles/ protestantisch, sagst du zu mir.“
Der Rezensent, aufgewachsen in einer katholischen norddeutschen Enklave, ist besonders beglückt über die gelungenen Bilder, mit denen Nora Bossong das Protestantische ihrer Herkunftslandschaft einfängt: „Von hier sieht der Himmel anders aus,/ mager, wie nur Protestanten ihn kennen.“ Bei uns waren die Himmel nie mager und die Wolken thronten barock über den Wiesen.
Geschichte beginnt von vorn
Das Gedicht mit dem Titel „Neunundachtzig“ führt den Leser zurück in das Jahr „der Wende“, des großen Bruches mit der Weltordnung nach dem Krieg.
„Da begann auf einmal die Geschichte von vorn,/ ich blätterte um, ich hielt mich am Rand/ der bedruckten Zeilen, die andern verstanden/ doch mehr davon, tanzten durch Jahre,/ bis sie verschwanden, die Ältesten tanzten/ sich unters Bett (der Russe!, der Russe kommt!)/ ich hörte sie rufen noch nächtelang,/ schlief auf der Angst ein oder döste davon,/ dem allseits entgrenzten Leben entgegen./ Tags verließ Vater die DKP, er legte den Winter/ nun mürbe aus, vieles war möglich,/ doch nur jede zweite Seite galt.“
Man müsste hier jede einzelne Zeile herausnehmen, sie nach allen Seiten hin abklopfen, um zu sehen, wie genau dieses Gedicht die Umstände des historischen Jahres „Neunundachtzig“ einfängt. Nora Bossong erzählt mit ihren Gedichten immer auch Geschichten, die aber mehrfach gebrochen werden, irgendwo abrupt enden. Man muss dann als Leser vielleicht den hingeworfenen Faden aufnehmen und zu einem möglichen Ende weiterspinnen. So wie das Betrachten des Birkenstamms auf dem Cover des Bandes den Betrachter auffordert, die Blätter der Baumkrone und die Wurzel der Birke zu assoziieren.
Man behält den von Nora Bossong angeschlagenen Ton auch nach der Lektüre der Gedichte lange im Gedächtnis. Dass die Autorin in dieser Edition an keiner Stelle wenigstens kurz vorgestellt wird, ist der einzige kritikwürdige Mangel des Bandes. Gewiss sollen literarische Texte – und Gedichte ganz besonders – für sich sprechen, ohne dass man biografische Details über den Autor oder die Autorin kennen muss. Aber ein kurzes Nachwort mit einigen Basisinformationen zur Autorin dieser Gedichte hätte man sich doch von den Herausgebern der Edition Lyrik Kabinett bei Hanser gewünscht.
Carl Wilhelm Macke
Nora Bossong: Sommer vor den Mauern. Gedichte. München: Hanser Verlag 2011. 94 Seiten. 14,90 Euro. Einen biografischen Kurzabriss, ein Gespräch mit Nora Bossong sowie einige Gedichte finden Sie hier.