Geschrieben am 7. September 2009 von für Bücher, Litmag

Noémi Kiss: Was geschah, während wir schliefen

Grenzüberschreitungen

Noémi Kiss ist eine eigenwillige, junge Stimme in der lange von Männern dominierten ungarischen Literatur. Carola Ebeling über ihren kürzlich auf Deutsch erschienenen Erzählband.

In einem Interview brachte die ungarische Autorin Noémi Kiss deutlich zum Ausdruck, dass ihr die männliche Dominanz in der ungarischen Literatur missfalle: „Unsere ganze Literatur ist von Männern besetzt. Für mich war es eine unheimlich starke Erfahrung, als ich studiert habe, dass wir nur männliche Texte gelesen haben.“

Kiss, 1974 geboren, zog die bestmögliche Konsequenz – die Dozentin für Vergleichende Literaturwissenschaft hat mit ihrem Buch Was geschah, während wir schliefen sechs beeindruckende Erzählungen vorgelegt. Allen gemeinsam ist eine wundersame Mischung: Erzähl- und kulturtheoretische Fragen werden so gekonnt mit existentiellen Erfahrungen und poetisch leuchtenden Sätzen verbunden, dass die Lektüre ein überraschendes Vergnügen ist.
Es sind mehrere Motive und Fragen, die alle Erzählungen verbinden. So geht Noémi Kiss immer wieder dem Bezug von Literatur und Wirklichkeit nach: „Als wäre meine Fantasie die Wahrheit, so will ich darüber schreiben“, heißt es in der Erzählung „Trans“, in der die Erzählerin in eine düstere Berliner Nachtwelt abtaucht, in eine Bar versammelter Schattenexistenzen, in die sie sich einreiht, Teilnehmerin und Beobachterin in einem. Und dann wird daraus eine Geschichte. Denn darum, eine Geschichte zu erzählen, die vermeintlich die eigene ist – das ist ein Antrieb für das Schreiben. Und so sehr diese Möglichkeit authentischen Schreibens bezweifelt wird, so alternativlos und notwendig bleibt der Schreibakt doch: Kiss versucht, eine verwandelte Wahrheit auf das Papier zu bringen – und so variantenreich die Erzählerin sich verschleiert, so gibt sie zugleich immer wieder Hinweise auf die Autorin.

Der Körper, die Sexualität

Sehr schön gelingt diese Verwebung in „B., B. und B“. Es ist die Liebesgeschichte zwischen der ungarischen Schriftstellerin N. und der polnischen Autorin A., die sich in Berlin begegnen. „Denn wir Menschen können es kaum erwarten, dass etwas anfängt, dass uns eine Geschichte widerfährt (…) und plötzlich merken wir, dass die Wirklichkeit ihrem Ende zugeht, dass es keine Fortsetzung gibt. Dann sehnen wir uns danach, uns endlich an den Schreibtisch setzen und über all das schreiben zu können.“

Das Ende dieser Geschichte ist der Unfalltod von A. – und N. schreibt sie auf. Sie versucht, Worte zu finden für die neue Erfahrung der Liebe zu einer Frau, für die Sexualität der beiden. Der Körper, die Sexualität – auch dies wiederkehrende Motive bei Kiss. Ihre Sprache dafür reicht von fast obszöner Direktheit bis zu zarter, poetisch-tastender Beschreibung. Immer geht es um Grenzüberschreitungen. Sich in Budapest, wohin beide reisen, zu der lesbischen Liebe zu bekennen, bedeutet einen weiteren Grenzübertritt, der nicht gelingt. „Die Sprache der Körper hätte zum Beispiel eine Art gemeinsamer Nenner sein können, ein starkes Bindeglied, doch uns fehlten selbst die Grundbegriffe, denn weder in ihrer Sprache, noch in meiner gibt es eine solche Freiheit dem nachzugehen, was wir getan haben, und in Worte zu fassen und damit festzuschreiben, was wir tun.“

Die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Traum

Die Grenzen der Sprache, die unsere Wirklichkeit maßgeblich ausmachen und somit die Möglichkeiten in ihr. Es ist erstaunlich, mit welch scheinbarer Leichtigkeit Noémi Kiss all ihren Erzählungen diese kultur- und erzähltheoretische Ebene nicht unterlegt, sondern sie explizit in die konkrete Handlung einflicht. Wer schreibt? Welche Rolle spielt der Körper dabei und wie kommt er in den Text? Traum, Fantasie und Wirklichkeit sind oft nicht klar zu trennen, sie erscheinen gleichwertig. In der Titelerzählung, in der die Ich-Erzählerin ihren Geliebten an eine andere verliert – oder nur beinahe? –, sind die Träume wie russische Matrjoschka-Puppen ineinander verschachtelt.

Die ungarische Literatur wird nicht länger nur Sache der Männer sein. Noémi Kiss ist nicht die einzige, aber eine sehr eigene Stimme, die dafür sorgt. Ihre Erzählungen sind schillernd vielschichtig und komplex. Nie geraten sie zum drögen, theoretischen Metatext, sondern wagen solche Sätze wie jene, die N. über ihre Geliebte A. sagt: „Es gibt mindestens zwei Wahrheiten: Die schönste und mutigste Frau, die ich je gekannt habe, ist tot. Und: Sie war es, die in mir zum ersten Mal die tiefste Sehnsucht erweckt hat.“

Carola Ebeling

Noémi Kiss: Was geschah, während wir schliefen.
Berlin: Matthes & Seitz 2009. 187 Seiten. 19,80 Euro.