Beeindruckende Vorstellungskraft
– Selten war es nachteilig, als Schriftstellerin gut auszusehen. Im Gegenteil. Wie bei Opernsängerinnen, bei denen früher nur die Stimme zählte, ist es heute auch für den Erfolg im Literaturbetrieb immer wichtiger, dass Newcomerinnen schön anzusehen sind.
Oder wäre Zoe Jennys „Blütenstaubzimmer“ so wohlwollend besprochen worden, wäre sie nicht dieses ätherische, elfengleiche Scheidungsmädchen gewesen? Und wäre das Kurzgeschichtendebüt „Sommerhaus, später“ von Judith Hermann genauso zahlreich über den Ladentisch gewandert, wäre die Autorin nicht ausgesprochen vorteilhaft auf Klappentext- und Katalogbildern abgebildet worden?
Bei Nicole Krauss hingegen ist es wohl zu viel des Guten. Sie ist nicht nur jung und schön, sie studierte an Elite-Universitäten wie Stanford und Oxford – und, als wenn das alles noch nicht genug wäre, ist sie auch noch die Ehefrau von Jonathan Safran Foer, einem jungen, weltberühmten Megaseller-Autor („Alles ist erleuchtet“, „Tiere essen“).
Krauss’ drittes Buch „Das große Haus“ ist in den USA ein großer Erfolg. Ein Grund mehr, sich als deutsche Medien auf die 36-Jährige zu stürzen. Allerdings muss die Autorin hier einiges aushalten. Denn fast berichtet das Feuilleton mehr über das tolle Haus in Park Slope/ Brooklyn, das Krauss mit Mann, zwei kleinen Kindern und einem großen Hund bewohnt, als über das Buch.
Es überrascht auch nicht wenig, dass ihr von Neidern unterstellt wird, Safran Foer hätte ihr beim Schreiben geholfen. Ähnlich viel Häme musste sich auch ihre ebenfalls attraktive Kollegin Siri Hustvedt, zufällig mit Schriftsteller Paul Auster verheiratet, gefallen lassen.
Angeblich hat Nicole Krauss ihren neuen Roman in dem engen Zeitfenster geschrieben, das zwischen Babys stillen, wickeln und in den Schlaf wiegen, übrig bleibt. (Hoffentlich hat Safran Foer auch Windeln gewechselt; wobei das ist wohl nicht die Art von „beim Schreiben helfen“ ist, die bei der Unterstellung gemeint war.)
Vermutlich ist dieser von Unterbrechungen gekennzeichnete Entstehungsprozess mitverantwortlich für die Erzählstruktur des Buches. Krauss erzählt vier nahezu eigenständige Geschichten, die nur eine Gemeinsamkeit haben: den Besitz, den Verlust oder die Suche nach dem massiven Schreibtisch mit 19 Schubfächern, von denen eines abgeschlossen ist. Jede ihrer vier Hauptfiguren erzählt in der Ich-Form, und Krauss springt zwischen Vergangenheit und Gegenwart munter hin und her, was es nicht immer leicht macht, ihr zu folgen.
Vier Hauptfiguren, vier eigenständige Geschichten
Der Roman beginnt im Jahr 1972 mit der geschiedenen New Yorker Schriftstellerin Nadja, die ihre Geschichte jemandem erzählt, den sie „Euer Ehren“ nennt und dessen Identität wir später erkennen werden. Sie erklärt ihr persönliches Verhältnis zu jenem Schreibtisch, der vor Jahrzehnten in ihren Besitz gelangte. Er gehörte dem chilenischen Dichter Daniel Varsky, der in seine Heimat zurückkehren wollte und vorübergehend einen Platz für seine Möbel brauchte. Allerdings sahen sie sich nie wieder. Varsky verschwand kurze Zeit später; verschleppt, gefoltert und ermordet von Pinochets Geheimpolizei.
Etwa 25 Jahre später bekommt Nadja einen Anruf von einer jungen Frau, Leah, einer gebürtigen Israelin, die behauptet, die Tochter des chilenischen Dichters zu sein. Sie möchte den Schreibtisch ihres Vaters haben – für Nadja eine Katastrophe. Niemals hat der Abschied von einem Menschen Nadja dermaßen gebeutelt. Der Verlust des Schreibtischs überwältigt sie. Fortan kann sie nicht mehr schreiben und auch sonst kommt sie mit ihrem Leben nicht mehr zurecht.
Im nächsten Erzählstrang scheint der Zusammenhang zu den anderen Geschichten zu fehlen. Ein Vater richtet einen zornigen, inneren Monolog an seinen Sohn Dov, der ihm schon als Kind seltsam fremd war und – für den Vater unverständlich – am Leben litt. Einst wollte Dov Schriftsteller werden. Doch sein Vater, der sich für den empfindlichen Dov etwas Handfesteres vorstellte, ist froh, dass es nicht so gekommen ist. Als junger Erwachsener zog sich Dov ganz von der Familie zurück und emigrierte nach England. Später, nach dem Tod der Mutter, nutzt Dov die Reise zur Beerdigung in Israel, dem Land seiner Kindheit, um sich der eigenen Vergangenheit und letztlich dem Vater zu stellen.
In der nächsten Geschichte führt uns Krauss nach London. Ein Oxford-Professor im Ruhestand, Arthur, trauert um seine verstorbene Frau Lotte, eine Schriftstellerin. Nach London kam sie einst als Begleiterin eines Kindertransports aus Deutschland, wo ihre Eltern im Konzentrationslager starben.
Arthur erinnert sich, wie eines Tages im Jahr 1970 ein junger, chilenischer Dichter, anscheinend ein Bewunderer Lottes, auftauchte. Lotte und den jungen Mann verband eine kurze, intensive Freundschaft, deren Grundlage sich für Arthur nicht erschloss und die seine Eifersucht nährte. Eines Tages stellte Arthur erleichtert fest, dass der Chilene abgereist war – und mit ihm Lottes Schreibtisch, den sie ihm in ihrer übergroßen Zuneigung geschenkt hatte. Nach ihrem Tod hält es Arthur nicht mehr aus. Er will wissen, was Lotte ihm ihr ganzes Leben verschwiegen hat, und macht sich auf die Suche nach ihrem Geheimnis.
Der Kreis schließt sich mit der Geschichte einer jungen Amerikanerin, Isabel, die nach Oxford kommt, um in Literatur zu promovieren. Sie verliebt sich in Joav, der mit seiner Schwester Leah in einem großen Haus mit ständig wechselnden Antiquitäten lebt.
Joav und Leah führten einst ein privilegiertes Nomadenleben. Mit ihrem Vater George, einem ungarischen Antiquitätenhändler, zogen sie von Stadt zu Stadt. George besitzt die legendäre Fähigkeit, verlorene Einrichtungsgegenstände wiederzubeschaffen. Mit Obsession arbeitet er daran, jüdisches Eigentum, das bei Gestapo-Plünderungen während des Zweiten Weltkriegs gestohlen wurde, aufzuspüren. Das Arbeitszimmer seines Vaters zu rekonstruieren, ist Georges Lebenswerk.
Ein großer Wurf
Der Roman ist ein starkes, imaginatives Buch. Die nicht linear erzählte, vom Aufbau her unorthodoxe Geschichte wird überzeugend vom Thema, nicht von dem minimalen Plot, angetrieben. Krauss fasziniert durch ihre beeindruckende Vorstellungskraft, mit der sie tiefer und tiefer in der Seele ihrer Figuren gräbt.
Leider ist die deutsche Übersetzung etwas schlampig und lässt fast zweifeln, ob die Übersetzerin Muttersprachlerin ist: grammatische Ungenauigkeiten und Begriffe, die eins zu eins übertragen wurden (deutsch für „coffee table“ ist immer noch „Sofatisch“ oder „Couchtisch“, nicht „Kaffeetisch“).
Doch für die stellenweise misslungene Übersetzung kann die Autorin selbstverständlich nichts. Daher die Einschätzung: Mit „Das große Haus“ ist Nicole Krauss zweifellos ein großer Wurf gelungen.
Kerstin Carlstedt
Nicole Krauss: Das große Haus (Great House, 2010). Aus dem Amerikanischen von Grete Osterwald. Reinbek: Rowohlt Verlag 2011. 384 Seiten. 19,95 Euro. Zur Homepage von Nicole Krauss.
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