Geschrieben am 15. März 2010 von für Bücher, Litmag

Nicol Ljubic: Meeresstille

Ambitioniertes Unterfangen

Nicol Ljubic versucht in Meeresstille den Balkankrieg im ehemaligen Jugoslawien aufzuarbeiten – und scheitert auf konstruktive Weise. Von Ulrich Noller

Es gibt vom Krieg kein Entrinnen. Der „Konflikt“ im ehemaligen Jugoslawien, zum Beispiel, taucht in dem Roman Meeresstille von Nicol Ljubic 15 Jahre später wieder auf, in der Ostsee und in Berlin. Ana und Robert befinden sich da, an die Ostsee haben sie eine Liebesfahrt unternommen, in Berlin leben sie. Erst ein paar Wochen sind die Zwei zusammen, eigentlich sollte in ihrer beider Leben nichts weiter herrschen als Unbefangenheit, Glück, Lust, Heiterkeit. Aber davon kann keine Rede sein, denn ein Schatten, ein Hauch, eine Irritation hat sich zwischen sie geschlichen. Etwas, das sie voneinander entfremdet, zunächst unmerklich, dann unübersehbar. Etwas, das sie trennt: ein Bild, das in Anas Küche hängt.

Das Portrait zeigt Anas Vater. Und dieses Etwas, das im Leben zweier junger Menschen seine Kreise zieht, trägt einen Namen: Višegrad, ein Ort im ehemaligen Jugoslawien, jetzt in der Republik Srpska gelegen. Ein Ort, an dem im Frühjahr 1992 Tausende Muslime vertrieben oder getötet wurden. Wie zum Beispiel die Familie, aus deren Kreis nur ein kleines Mädchen überlebte, deren 42 Verwandte in einem brennenden Haus starben. Ein Mann ist vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag angeklagt, sich damals als Funktionär des Roten Kreuzes ausgegeben zu haben, um die Familie in das Haus ihres Todes zu locken: Zlatko Šimi?, Anas Vater.

Ana ist die Tochter eines Täters, eines Mannes, den sie bloß als liebevollen Vater kennen lernte; und sie ist zugleich auch Opfer: als Serbin immer zu einer Angehörigen des „Tätervolkes“ stigmatisiert. Robert ist in Deutschland aufgewachsen, er hat zwar kroatische Vorfahren, aber sein Vater hat alles Kroatische aus dem Familienleben getilgt; Robert ist ein Deutscher. Jetzt macht er sich auf, nach Bosnien, in die Republik Srpska, und nach Den Haag zum Prozess von Anas Vater, um sich und sie – und die Irritation, den Schatten, den Hauch zu verstehen.

Ein Schatten, ein Hauch, eine Irritation

Nicol Ljubic, geboren 1971 in Zagreb, als Sohn eines Ingenieurs aufgewachsen in Deutschland, Schweden, Griechenland und Russland, versucht sich in seinem zweiten Roman Meeresstille an einer grundlegenden Aufarbeitung der ethnischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien. Dadurch, dass er die – etwas konstruiert anmutende -Liebesgeschichte von Ana und Robert mit Roberts Beobachtungen beim Kriegsverbrechertribunal kombiniert, fließen alle möglichen Ebenen in die Geschichte mit ein: Die Geschehnisse während der „Säuberungen“ an sich, die juristische Aufarbeitung, den Umgang im Privaten, die Folgen für nachfolgende Generationen.

Ein ambitioniertes Unterfangen, mit dem man eigentlich nur scheitern kann, zumal wenn die erzählte Geschichte noch im Gang ist. Nicol Ljubic scheitert mit Meeresstille auf konstruktive Weise: Trotz vieler Sätze bleibt auch er letztlich sprachlos, findet nicht die richtigen Worte, um das zu erklären, was man unter Umständen überhaupt nicht erklären kann. Ein Schatten, ein Hauch, eine Irritation – auch in diese Geschichte hat sich das Etwas eingeschlichen, das schon die Beziehung von Ana und Robert infiziert hatte. Die Fragen des Buches bleiben am Ende also offen. Sie zu stellen, ihren Antworten nachzuspüren, ihrem Nachhall zu lauschen, war immerhin ein erster Schritt.

Ulruch Noller

Nicol Ljubic: Meeresstille.
Hoffmann und Campe, 2010. 192 Seiten. 17,00 Euro.