Hegel, Haiti und der Pöbel
– In etlichen Neuerscheinungen wird in diesen Tagen mal wieder Hegels Aktualität entdeckt. Offenbar ist es von der Sklavenrevolte in Haiti im Jahr 1791 bis zur Arabellion im letzten Jahr nur ein kleiner Sprung. Außerdem hatte Hegel schon das Phänomen des reichen Pöbels entdeckt: Der berauscht sich – wie hedonistische Hedgefonds-Manager unserer Tage – am exzessiven Luxus und bewegt sich außerhalb gesellschaftlich akzeptierter moralischer Normen. Von Peter Münder
Ein bisschen Spaß muss sein, gerade dann, wenn es um Friedrich Hegel (1770–1831) geht, der ja keinen Sinn für Humor hatte, allergisch auf Kritik reagierte und sich ungeheuer wichtig nahm. Er war auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Luftschiffer des Geistes und verbeamteter Staatsphilosoph – trotz der üblen und bösartigen Invektiven Schopenhauers – eine anerkannte Koryphäe gewesen und bei Goethe in Weimar ein genauso gern gesehener Gast wie in der Berliner High Society. Weil der gigantische Hegel-Hype aber auch nach dem Tod des Philosophen noch lange in vollster Blüte stand, fabrizierten etliche darob entnervte Kritiker, Biografen und Autoren (Lindner, Gruppe, Rosenkranz) zwischen 1831 und 1844 einige satirisch überdrehte Theaterstücke – die sogenannten „Hegel-Spiele“ –, in denen das verschwiemelte Spekulieren des schwäbischen Oberdenkers von eher bodenständigen Figuren auf die Spitze getrieben und mit ganz profanen Alltagsproblemen konfrontiert wurde.
So mokierte sich etwa Friedrich Ludwig Lindner 1844 in seinem Stück „Der absolute Stiefel“ über einen oberschlauen Schustergesellen, der sich weigert, einen Stiefel zur Probe herzustellen, bevor der Meister ihn in seiner Werkstatt beschäftigt. Der Geselle schüttelt locker Hunderte von hochtrabenden Hegel-Zitaten aus dem Ärmel; den Stiefel hat er zwar als Vorstellung eines „absoluten Stiefels“ (sozusagen „virtuell“) im Kopf, aber schustern will er ihn nicht: „Der Stiefel, als allgemeines Seyn gedacht, gibt den Begriff des Stiefels; der Begriff aber ist nur im Bewußtseyn, und Bewußtseyn selbst, frei von allem äußern Schein; er ist absolut im Ich und gleich mit dem Wesen des Ich …“
Es kommt also zum Streit, der erboste Meister verprügelt den aufmüpfigen Jung-Hegelianer, beide konsultieren daraufhin einen Polizeikommissär, der den Konflikt schlichten soll. Doch der Kommissär ist von den rhetorischen Tricks des Gesellen („Ich bin ein denkender Schuhmacher“) und vom pseudophilosophischen Sprechblasen-Tsunami des Jungschusters überfordert – schließlich können Meister und Kommissär das Geschwätz des Gesellen nicht mehr ertragen: Sie kaufen dem Experten für das Absolute, der sich hartnäckig weigert, einen ledernen Stiefel anzufertigen, dessen „absoluten“, rein abstrakten Stiefel für fünf Gulden schließlich ab, bevor sie von so tiefschürfenden Geselleneinsichten wie den folgenden in den Wahnsinn getrieben werden: „Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigene Wesen gelten, deren eines drüben, das andere hüben ohne Gemeinschaft mit dem anderen isolirt und fest steht – es gibt aber kein Falsches, so wenig es ein Böses gibt.“
Verloren in metaphysischen Nebeln
Auch heute gibt es sicher noch viele Mitglieder der „gebildeten Stände“, denen es ähnlich geht wie dem Schustermeister oder dem verzweifelten Studenten, der nach Hegels Jenaer Vorlesungen erklärte, er wisse gar nicht, „wovon hier eigentlich die Rede sei, ob von Enten oder Gänsen“. Da konnte der Meister am Katheder und in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ noch so oft betonen, „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ – der dialektische Durchblick ging im Nebel dieser meist ins Metaphysische driftenden verwirrenden Begriffe doch leicht verloren. Bertrand Russell brachte es in seiner „History of Western Philosophy“ ganz konkret auf den Punkt: Es könne doch nicht angehen, kritisierte er den deutschen Vordenker, dass die banale Definition eines „Onkels“ so problematisch, wenn nicht gar unmöglich sei, nur weil das Hegelsche System dermaßen auf das Absolute fixiert sei: Die Addition einfacher Details zur genaueren Charakterisierung spezifischer Eigenschaften eines Onkels (er hat einen Neffen oder eine Nichte) laufen immer auf ein Nullsummenspiel hinaus, weil man das große Gesamtbild nie komplett vollenden könne und das angestrebte Absolute immer einige Defizite aufweise: „Since nothing really exists except the Absolute and we are now committed to the existence of a nephew, we must conclude: The Absolute is a nephew.“ Aber den Neffen als das Absolute zu bezeichnen, ist natürlich ebenso grotesk wie des Schustergesellen „absolutes“ Stiefelverständnis.
Die neueren Hegel-Analysen und -Interpretationen von Frank Ruda („Hegel und der Pöbel“), FU Berlin, und der Amerikanerin Susan Buck-Morss („Hegel und Haiti“), Philosophieprofessorin an der Cornell University, stellen die ethisch-moralischen Aspekte der Hegelschen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ von 1821 in den Mittelpunkt. Der gesellschaftskritische Blick auf die jüngsten arabischen Revolten ist ebenso durch den Ethiker Hegel geschärft worden wie das Herr-Knecht-Verhältnis, mit dem sich Hegel bereits in der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 intensiv beschäftigt hatte und was dazu führte, dass sich viele Marxisten mit ihren klassenkämpferischen Ideen später auf Hegel beriefen. Seit den chaotischen Finanzkrisen und dem Kollaps diverser Banken und Hedgefonds-Zocker rücken die Finanzhaie, Raubtier-Kapitalisten sowie marodierende Raubritter stärker in den Fokus: Hatte der prophetische Hegel in seinen Überlegungen zum Pöbel diese vielleicht schon erfasst, als er den „Luxus-Pöbel“ beschrieb und speziell dessen „Spielernatur“ äußerst kritisch charakterisierte?
„Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel“ hatte Hegel geschrieben – erst der subjektive Akt des Anklagens, weil er sich zu Unrecht von der Gesellschaft ausgegrenzt und sich dadurch ins Unrecht gesetzt fühle, charakterisiere den Pöbel. In seinem Vorwort zu Rudas Studie geht der slowenische Philosoph und hegelianische Querdenker Slavoj Zizek, der wegen seiner sprunghaften, hyperaktiven Fabrikation von inzwischen ca. fünfzig Büchern – demnächst erscheint sein tausend Seiten starker nächster Hegel-Band – sowie immer neuer und stimulierender Thesen gern der „Elvis der Kulturtheorie“ (Untertitel eines Filmporträts über ihn) bezeichnet wird, auf Hegels Ausführungen zum Pöbel ein. Zizek will Hegel etliche Systemfehler nachweisen, er hält ihn für inkonsequent, weil der Luxus-Pöbel nur partikular erfasst wird, während der arme Pöbel eine latent universale Dimension erhält. Zizek treibt Hegels rechtsphilosophische Überlegungen aber radikal nach vorn und konfrontiert den Pöbel unserer Tage mit einer brutalen Realität, die zur existentiellen Bedrohung geworden ist: „Dem heutigen Pöbel wird noch das Recht verwehrt, durch Arbeit ausgebeutet zu werden, sein Status oszilliert zwischen dem eines Opfers, das durch wohltätige humanitäre Hilfe versorgt wird, und dem eines Terroristen, der in Schach gehalten oder vernichtet werden muss; und genau wie von Hegel beschrieben, formuliert er manchmal seine Forderung als Forderung der Subsistenz ohne Arbeit (wie die Somalischen Piraten).“
Hermeneutischer Tunnelblick der Interpreten
Da es für viele Hegelianer oft nur darum geht, den großen dialektischen Klassifizierungs- und Systemschirm weit aufzuspannen und alle Phänomene dieser Welt damit zu erfassen, sind diese Exegeten dementsprechend beglückt, wenn auch das letzte Randphänomen noch Platz findet unter dem Hegelschen diagnostischen Radarschirm. Wenn die brillante amerikanische Exegetin sich nun vor allem auf Haiti als Zentrum der bedeutenden Revolte von 1791 und als Auslöser wichtiger Debatten über die Sklavenfrage kapriziert, dann fragt man sich natürlich, warum diese zentrale Thematik „Hegel und Haiti“ erst jetzt entdeckt wird und ob hier vielleicht eine von Hegel als marginal empfundene Protestaktion des Weltgeistes post festum überbewertet und aus aktuellem Anlass (Finanzkrise, Armuts- und Hartz-IV-Debatten, Nahost-Unruhen) dramatisiert wird . War der Weg nach Haiti für den eher behäbigen Hegelschen Weltgeist vielleicht doch zu weit und beschwerlich?
Diese Hegel-Studien wollen den großen Dialektiker mit Hinweisen auf seine gesellschaftspolitische Aktualität vor allem für ihre Thesen vom kritischen „Zeitgenossen“ Hegel mit einer globalen Perspektive vereinnahmen. Wenn nur das Ganze das Wahre ist und das Absolute ein Garant richtiger Erkenntnis, dann ist eben auch offensichtlich, dass man heute dem großen dialektischen Vordenker assistieren muss, um ihm abgelegene Randzonen näher zu bringen und um zu demonstrieren, dass der deutsche Meisterdenker immer noch up to date ist mit seiner Diagnose universalgeschichtlicher Phänomene. Hegel heute – das bedeutet für seine Adepten eben auch: Mit ihm lässt sich (fast) jedes historische und gesellschaftspolitische Phänomen erklären und interpretieren. Aber liegt dies vielleicht auch am hermeneutischen Tunnelblick der Interpreten, der die Perspektive des bourgeoisen, pensionsberechtigten Staatsbeamten Hegel konsequent ausblendet und in jedem Freiberufler eine zockende Spielernatur outet?
Ihre Überlegungen zu Hegel und Haiti, zum Sklavenaufstand und dem aus abgelegenen Regionen hochkochenden revolutionären Impetus, so erklärt Buck-Morss, dienten auch der Eroberung neuer Erfahrungshorizonte: „Eine Befreiung aus dem unendlichen Kreislauf von Aggressor und Opfer ist nur dann möglich, wenn die Vergangenheit, die es anzuerkennen gilt, überhaupt auf der historischen Landkarte verzeichnet ist. Es werden Ausgrabungsarbeiten notwendig sein, die es nicht über Grenzen hinweg durchzuführen gilt, sondern bei denen es überhaupt keine Grenzen gibt. Die wertvollsten Funde warten an den Rändern der Kulturen. Dort zeigt sich die universelle Menschheit.“
Die flott und spannend schreibende Amerikanerin deckt ein wesentlich breiteres Spektrum ab als der Berliner Philosoph Ruda, der sich über weite Strecken den rechtsphilosophischen Überlegungen Hegels eher deskriptiv und mitunter hölzern-akademisch nähert, auch wenn seine Kommentare zum Luxus-Pöbel von bestechender Aktualität sind.
Dass uns Hegel also als brisanter zeitgenössischer Analytiker schmackhaft gemacht wird, ist eigentlich ganz plausibel – nur geht es eben offenbar nur über eloquente Mittler, die dessen Jargon der Unverständlichkeit umsetzen in eine weniger diffuse und widersprüchliche Terminologie. Das Absolute mag ja das einzig Wahre sein, doch welcher Wanderer und Bergsteiger will sich beim Aufstieg in luftige Höhen schon mit einem „absoluten Stiefel“ abspeisen lassen, wenn er einen strapazierfähigen Schuh zum Laufen braucht?
Peter Münder
Frank Ruda: Hegels Pöbel. Vorwort von Slavoj Zizek. Konstanz: Univ. Press 2011. 278 Seiten. 29,80 Euro.
Susan Buck-Morss: Hegel und Haiti. Aus dem Englischen von Laurent Fasch-Ibrahim. Berlin: Edition Suhrkamp 2011. 217 Seiten. 16,00 Euro.
Heiner Höfener (Hrsg.): Hegel-Spiele. („Der absolute Stiefel“, „Die Winde“, „Das Centrum der Speculation“). Donauwörth: Rogner & Bernhard 1977. 350 Seiten.