Geschrieben am 19. März 2014 von für Bücher, Litmag

Navid Kermani: Große Liebe

Navid Kermani_Grosse LiebeEs war einmal die erste große Liebe

– Navid Kermanis autobiographisch-reflexiver Essay-Roman. Von Wolfram Schütte

Der 1967 in Siegen geborene & in Köln lebende Navid Kermani ist unter den deutschsprachigen Autoren gewiss einer der eigenartigsten. Seine Eltern sind iranische Emigranten, er selbst ist nicht nur Belletrist & Essayist, sondern auch habilitierter Orientalist. Seine erzählerische Prosa bewegt sich zugleich in essayistischem Fahrwasser. Die Leser seines Oeuvres wurden sowohl mit seinen akademischen Interessen als auch mit der Intimität seines privaten Lebens (vornehmlich zuletzt in dem großen jeanpaulinischen Roman “Dein Name”) bekannt –, um nicht zu sagen: vertraut gemacht.

Das alles trifft auch auf sein jüngstes Buch zu: “Große Liebe” hat die Genrebezeichnung “Roman”, spielt aber mit dem Leser, indem das Buch gleich mehrfach suggeriert, eine sehr formbewusste autobiografische Reflexion zu sein.

Der Erzähler teilt mit dem Autor dessen augenblickliche private Situation als alleinerziehender Vater eines fünfzehnjährigen Sohns, der bei ihm aufwächst, aber seinen Geburtstag z.B. lieber mit seinen Altersgenossen als mit dem Schriftstellervater verbringt.

Diese reale oder fiktive Verlusterfahrung ist die Initialzündung für den fünfundvierzigjährigen geschiedenen Schriftsteller, sich seiner selbst als fünfzehnjährigen Oberschüler in einer protestantischen Kleinstadt zu erinnern, bzw., zu imaginieren, als die man Kermanis Geburtsort Siegen erkennt. Der sich heute sorgende Vater denkt nun, seine Schulzeitliebe memorierend & ausmalend-erfindend, an seine besorgten Eltern, als er seinerzeit mit fünfzehn Jahren drei Nächte zuhause ausblieb, weil er sie mit seiner ersten “Großen Liebe” in deren WG-Zimmer verbracht & das seinen Eltern verschwiegen hatte. Es war eine vier Jahre ältere Mitschülerin, die kurz vorm Abitur stand & von ihm “als die Schönste des Schulhofs” in der “Raucherecke” (wo sie mit den älteren in den Pausen sich aufhielt) angehimmelt worden war.

Literarisch “jeanpaulisierende” Portionierungs-Mathematik

Zweimal 15 = 30: genau so viele Jahre liegen zwischen damals & heute in Kermanis erzählchronologischer Konstruktion. Sie besteht aus 100 Rekapitulationen, die einem als mehrfach angesprochenen Leser ein täglich wachsendes work-in-progress vorspiegeln – und die geläufige Paginierung außer Kraft setzen: Eine weitere Zahlenspielerei. Wenn das Buch also auf seiner faktisch 224. Seite immer noch scheinbar auf Seite 100 ist, könnte das ein subtiler Verweis auf das Nunc stans der mystischen Erfahrung sein, die in ihm eine dominante Rolle spielt.

Lesern, denen die hier vorgenommene Spiegelung einer pubertären Liebesleidenschaft des Autors in exaltierten religiösen Texten aus dem mittelalterlichen Islam “affig” oder gar egozentrisch erschiene, wären für den jokosen Ernst der Kermanischen Poesie verloren. Ihnen entginge auch die warmherzige Ironie des brillanten Autors, wenn er innerhalb eines Satzes von den politisch-erotischen Befindlichkeiten eines fünfzehnjährigen Bundesbürgers zu den herzzerreißenden Wehrufen Madschunins um seine Leila in der Prosa des persischen Dichters Nizami im 12. Jahrhundert wechselt!

Auch versichert der “coole” Erzähler/Autor seiner erotischen Hitzigkeiten immer wieder, er wolle für jede “Station der Liebe” (Begegnung, Kennenlernen, erste Berührung) jeweils 10 Seiten aufwenden & bis zur vierzigsten Seite würde er von der Vereinigung, bis zur fünfzigsten “von dem Zustand erzählen, den die Mystiker das ‚Bleiben im Entwerden‘ nennen”, so dass für die Verzweiflung seiner unglücklichen ersten Liebe noch die Hälfte des Buches übrig bleibe – eine Rechnung, die aber dann de facto natürlich nicht aufgeht.

Diese Portionierungs-Mathematik des Erzählers, der hier literarisch “jeanpaulisiert”, gehört sowohl zu Kermanis selbstreflektierender Schreibweise als auch zur schönen Ironie & dem herzlichen Humor seines tolldreisten Buchs, das auf die leichteste & zugleich ernsteste Weise mit sich, seinem Autor & dessen biographischen Belustigungen als närrisch Verliebtem während der aufgeregten Zeit der bundesdeutschen Friedensbewegung spielt.

Ein Solitär in der deutschen Gegenwartsliteratur

Die von Kermani in vielen zeittypischen Details lebendig beschworene Zeit der ungemein ernsten Friedensbewegung der empörten Studenten & Schüler gegen den als Apokalypse-Drohung angesehenen Nato-Doppelbeschluss gibt den Hintergrund ab, vor & aus dem sich die Liebesgeschichte entwickelt, die nur eine Woche währte & von der älteren Geliebten schmerzhaft radikal beendet wurde.

Die Darstellung dieser ersten großen Liebe wird einerseits dem eigenen Sohn zugedacht; andererseits aber den heutigen Lesern (je nach Alter) als nostalgische Reminiszenz oder als historische Vergegenwärtigung einer fast vollständig vergangenen politischen, sozialen & medialen Zeit & einer verschwundenen individuellen & kollektiven Mentalität erzählerisch vor Augen gestellt. Wer will, kann den Verfasser 1983 in Bonn als jungen Protestler, der von Polizisten weggeschleppt wird, sogar auf Youtube sich ansehen, weil Kermani im Buch diesen “link“ angibt.

Andererseits aber nimmt der Islamwissenschaftler, dessen Spezialität die Liebes-Mystik der persisch-arabischen Sufis ist, Realität & Imagination seiner Ersten Liebe zum Anlass sein “Hohes Lied” zu singen: auf die anthropologische Emphase des allgemein menschlichen Phänomens der Liebe & deren Entgrenzungserfahrungen, die ja rückhaltlos bis zum Närrischen gehen (& im Orthodox-Religiösen ins Blasphemische reichen) kann. Das Erstaunliche an Navid Kermanis kleinem Buch sind die vielen unterschiedlichen Anblicke, die es einem Leser bietet, dem der Autor sie spielerisch abwechselnd vor Augen führt.

So einzigartig Stendhals große essayistische autobiographische Überlegungen “De l´amour” sind, so solitär liegt Navid Kermanis “Große Liebe” in der deutschen Gegenwartsliteratur vor uns.

Last but not least muss noch eine geisteshistorische Besonderheit dieses brillanten Roman d´essai genannt werden: Es ist nicht die deutschsprachige Mystik, die hier zur Emphatisierung der ersten männlichen Liebeserfahrung herangezogen wird, sondern die islamische – “aus dem Land meiner Lieblingslektüren“ (wie Kermani etwas gestelzt über seine frühe literarische Neigung mehrfach behauptet). In manchen islamischen Gesellschaften werden, wie manchmal schon im Mittelalter, Sufis noch bis heute von den Orthodoxen als Apostaten verfolgt.

Wolfram Schütte

Navid Kermani: Große Liebe. Roman. Carl Hanser Verlag, München 2014. 224 Seiten. 18,90 Euro.

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