Neue Bücher von/über Beth Ditto, Blondie, Lady Bitch Ray, J.J. Halberstam und Ellen Willis – nichts für brave Mädchen, aber durchaus was für Christina Mohr.
Plädoyer fürs Anderssein
Beth Ditto ist der ungewöhnlichste Superstar, den man sich vorstellen kann: die 31-jährige ist dick, lesbisch und entspricht keinem Mainstream-Ideal. Dittos weltweiter Erfolg mit ihrer Band Gossip und ihr Status als Everybody´s Darling – vom Punk-Underground bis Karl Lagerfeld – ist umso erstaunlicher, wenn man ihre Lebensgeschichte kennt. Geboren 1981 als Mary Beth Patterson in Searcy, Arkansas, aufgewachsen im Kaff Judsonia in ärmlichen Verhältnissen und einem Familiengefüge, das mit „verworren“ oder „unüberschaubar“ nur unzureichend beschrieben wäre.
Die überforderte Mutter überlässt Beth und ihre Halbgeschwister meistens sich selbst oder der kettenrauchenden und latent gewalttätigen Tante, Männer kommen und gehen und es scheint beinah natürlich, dass Beth schon als kleines Mädchen missbraucht und vergewaltigt wurde. Der Weg aus Judsonia ist hart bzw. hält Beth ihre Laufbahn als viel zu junge Mutter viel zu vieler Babies schon für vorgezeichnet – bis sie über Schulfreunde Kontakt zur Punk- und Riot-Grrrl-Szene knüpft.
Beth singt in verschiedenen Bands, lernt den heutigen Gossip-Gitarrist Nathan Howdeshell kennen und folgt ihm und anderen FreundInnen nach Olympia, Washington, der Riot-Grrrl-Hochburg. Dort ändert sich alles, und zwar für immer: Gossip (damals noch Little Miss Muffett) erobern rasch die dortige Szene, ihre ersten Alben erscheinen bei den stilprägenden Labels K Records und Kill Rock Stars. Ab 2006 ist die Band sowieso nicht mehr zu stoppen: mit „Standing In The Way Of Control“ beginnt Gossips Superstarphase, die zwei Alben später noch lange nicht beendet ist.
Gossip – Heavy Cross from PopBytes on Vimeo.
Beth Ditto ziert die Titelblätter aller Hochglanzmagazine, Gossip spielen in ausverkauften Hallen. Dittos zuweilen etwas holprig erzählte Autobiographie „Heavy Cross“ (im Original: „From Coal to Diamonds“) ist eine Aschenputtelgeschichte par excellence, berührend, aber niemals sentimental oder mitleidheischend. Ditto grollt weder ihrer Familie noch Arkansas – „Heavy Cross“ zelebriert den Wert von Freundschaften und propagiert das Anderssein. Und auch wenn Gossip musikalisch längst kein Punkrock mehr sind, sondern ziemlich glattgebügelt: im Herzen bleibt Beth Ditto ein Riot Grrrl in Reinkultur.
Beth Ditto: Heavy Cross. Die Autobiographie (Heyne Hardcore, Gebunden mit Schutzumschlag, 208 Seiten). Übersetzt von Conny Lösch. Zur Heyne-Verlagshomepage, zur Gossip-Website.
Coolste Frau des Planeten
Die Geschichte von Debbie Harry und Blondie ist schon häufig erzählt worden. Zahlreiche Bücher zeugen von der Faszination der Band aus New York City, die als Punkcombo im legendären Club CBGB´s begann, mit Hits wie „Heart Of Glass“ und „Call Me“ zu Superstardom aufstieg, sich wegen interner und musikalischer Differenzen auflöste und sich in den 2000er-Jahren neu formierte. Blondie sind zwar keine Superstars mehr, aber Hits wie „Maria“ gelingen ihnen lässig – und schließlich singt hier immer noch die coolste Frau des Planeten!
Blondie – Heart Of Glass von hushhush112
Die Musikjournalisten Dick Porter und Kris Needs unterziehen Blondie in „Parallel Lives“ keiner umwälzenden Neubewertung, sie fügen der Historie bisher unbekannte oder wenig beachtete Details, O-Töne und Anekdoten hinzu wie z. B. den ausführlichen Bericht über die „Blondie Mania“ Ende der 1970er in England. Weitgehend unerzählt waren bislang die jüngere Vergangenheit Blondies und Debbie Harrys Solokarriere und ihre Neuerfindung als Jazzsängerin (mit den Jazz Passengers).
Auch wenn Blondies letzte Alben nicht mit Klassikern wie „Parallel Lines“ oder „Autoamerican“ mithalten können: vor allem Debbie Harrys Einfluss auf jüngere Künstlerinnen – nicht zuletzt Madonna – ist unschätzbar und kann gar nicht oft genug hervorgehoben werden.
Dick Porter/Kris Needs: Blondie – Parallel Lives (Bosworth, Broschur, 380 Seiten). Zur Bosworth-Website, zur Blondie-Homepage.
„Pussy-Delüks!“
Lady Bitch Ray, bürgerlich Reyhan Sahin und seit kurzem Dr. phil. (Doktorarbeit zum Bedeutungssystem des muslimischen Kopftuchs in Deutschland) besorgt es uns hart, Bitches: „Juckt Deine Muschi vor Wut und willst Du Dich emanzipieren? Dann ist dieses Buch genau das richtige für Dich, Bitch! Denn Bitchsm wird vielleicht Dein motherfucking Leben verändern. Mit meiner Bitchsm-Philosophie möchte ich grundlegend aufklären und die Grundideen meiner feministischen Denkweise des Bitchism verdeutlichen.
Es gibt kein anderes Frauenrechtswerk, das so bitchig, votzig und fresh wie dieses ist. Bitchsm ist für coole Frauen, die Mut und Wut in der Pussy haben. Ich hab dieses Buch eigenhändig für Euch geschrieben ohne Ghostwriter ohne Berater und fast vier Jahre dafür gebraucht. Ich bin stolz darauf, dass ich mir stets treu geblieben bin und dieses Werk unter meinem eigenen Vagina Style-Votzenschleim-Verlagslabel veröffentlicht habe. Pussy Delüks!“
Und so ist es: knapp 500 Seiten pinkfarbenes Fick-Workout, Penis-Pilates, Bitchism-Philosophie und -Gebote, Bitchism-Ethik und -Beauté, vorgeführt von La Bitch Ray höchstpersönlich, in Großaufnahme beim Dildolutschen und Tittengrapschen. Sahin/Ray erfindet griffig-saftiges Bitchism-Vokabular, das sie im Bitchism-Glossar erläutert: „Fuß-Nutten“ sind Fußnoten, ein Bitcher-Download ist die umwerfend bildhafte Umschreibung für männliches Wichsen, die Votzensekretärinnen arbeiten im Namen der Bitch und überhaupt macht man mit bitchigem bitchen nichts falsch.
Okayokay, man kann sich über dieses Opus Bitchus echauffieren, noch besser aber erregen, denn irgendwie sind diese 500 Seiten Pussypower echt befreiend. Feminismus schön und gut, aber wer noch nie einen feuchten Abdruck von seiner eigenen Pussy gemacht hat, muss einfach noch ein bisschen an seiner Bitchigkeit arbeiten. Frau Dr. Sahin hilft!
Lady Bitch Ray: Bitchism (Panini, Gebunden, 480 Seiten). Zur Panini-Verlagshomepage, zur Lady Bitch Ray-Website.
Boygirl
Spongebob SquarePants als Queerness-Ikone? Wer schon immer geahnt hat, dass die Stories aus Bikini Bottom mehr sind als lustiger Kinderquatsch, wird von Judith Jack Halberstam endlich bestätigt: TV-Serienstar Spongebob und seine Gefährten stehen für ein neues Zeitalter, in dem – yippie!! – endlich alles mögliche möglich sein wird. Schwule Familien zum Beispiel (erinnert euch an die Folge, in der SpongeBob und Patrick Eltern einer kleinen Muschel werden) oder – siehe Gary – als Schnecke geboren zu sein, aber als Katze zu leben.
Was sich bis hier ziemlich gaga anhört, ist von Dragking-Legende, BuchautorIn und American-Studies-ProfessorIn Halberstam auch gaga gemeint. SpongeBob ist aber nur ein Seitenstrang in Halberstams neuem Buch „Gaga Feminism“, das vielmehr Stefani Germanottas alias Lady Gagas spektakuläre Erscheinungsformen, ihren kühnen Umgang mit dem popkulturellen Zeichensystem und ihre Rolle als Mutter aller „little monsters“ als wegweisend und manifestierend zugleich für die gegenwartliche Realität und einen neuen Feminismus (endlich!) ansieht. Lady Gaga ist sowohl Produkt als auch Motor unserer patchworkisierten, multioptionalen Welt – deren Optionen erst jetzt umfänglich umgesetzt und wahrgenommen werden.
Inzwischen ist Queerness (mit „schräg“, „unangepasst“ oder „ungewöhnlich“ nur unzureichend übersetzt) Normalität – angefangen mit sexuellen Vorlieben, die vor noch nicht allzu langer Zeit mit Höchststrafen bedacht wurden; über schwangere Männer, sich spät als Lesben entdeckende Frauen und überhaupt Nonkonformismus in allen Bereichen des Lebens.
Halberstam entwickelt anhand ihrer Thesen ein Manifest der Queerness und eines modernen resp. zeitgemäßen Feminismus, mit Lady Gaga als Königin und Spongebob als Sidekick. Und verweist mehrfach auf die Kinder ihres Partners, die Judith „Jack“ mit frappierendem Pragmatismus schlicht „Boygirl“ nennen.
J. Jack Halberstam: Gaga Feminism: Sex, Gender, and the End of Normal (Beacon Press, Broschur, 192 Seiten). Zur Beacon-Website, zur Homepage von Halberstam.
Klug, subjektiv, brilliant
Es wäre höchst interessant, was Ellen Willis, ihres Zeichens erste Musikredakteurin der Zeitschrift New Yorker, über Beth Ditto oder Lady Gaga zu sagen gehabt hätte. Leider starb Willis vor sechs Jahren an Krebs, und ohnehin hatte sie sich in den Jahren zuvor in ihrem journalistischen Wirken vermehrt politischen und gesellschaftlichen Themen zugewandt. Die 1941 in New York City geborene Ellen Willis war eine leidenschaftliche, kämpferische, intelligente, politisch engagierte Autorin und vor allem Feministin: als sie in den mittleren 1960er-Jahren beim New Yorker begann, legte man ihr nahe, ihre Texte nicht mit ihrem Vornamen zu unterschreiben, da es bei der Zeitung angeblich schon „zu viele weibliche Autorinnen“ gab, was man offensichtlich dem Lesepublikum nicht zumuten wollte.
Willis lehnte das Angebot ab, unterschrieb mit ihrem vollen Namen und verfasste einzigartig kluge, stets subjektive und dabei stets brilliante Artikel über Bob Dylan, Creedence Clearwater Revival (ihre Lieblingsband), die Stones (ihre zweite Lieblingsband), über Joni Mitchell, Janis Joplin und unzählige MusikerInnen mehr. In den frühen Achtzigern zeigte sie sich von Pop mehr und mehr enttäuscht (vor allem empfand sie Punk als Lüge und keineswegs als Revolution) und schrieb nur noch selten über Musik.
Willis ist eine echte Pionierin, deren Wiederentdeckung uneingeschränkt lohnt. Zur Einstiegslektüre seien die beiden unlängst erschienenen Bände „No More Nice Girls“ und „Beginning to See the Light“ empfohlen, die ihre wichtigsten Texte über Popmusik und Feminismus beinhalten.
Ellen Willis: No More Nice Girls. Countercultural Essays (University of Minnesota Press, Broschur, 282 Seiten).
Ellen Willis: Beginning to See the Light: Sex, Hope, and Rock’n’Roll (University of Minnesota Press, Broschur, 320 Seiten). Zur Homepage des Verlags.
Christina Mohr