Geschrieben am 13. Februar 2004 von für Bücher

Mo Hayder: Die Behandlung

Packender Psycho-Schocker

Für diesen neuen Thriller von Mo Hayder sollten Sie sich unbedingt zwei bis drei Tage frei nehmen – denn freiwillig legt man es kaum vorher aus der Hand, als bis die letzte der 500 eng beschriebenen Seiten atem- und fassungslos verschlungen ist. Dazwischen liegt ein packender Horrortrip, der mit einer nie nachlassenden, fast schmerzhaften Hochspannung in die dunkelsten Abgründe des menschlichen Seins führt.

Mo Hayders Kriminal-Fall ist im Süden Londons angesiedelt, am Rande des Brockwell-Parks, in direkter Nachbarschaft zum Stadtteil Brixton. Hier wird die Familie Peaches in ihrem etwas heruntergekommenen Reihenhaus überfallen. Nach einem tagelangen Märtyrium flieht der Täter mit dem achtjährigen Sohn Rory in den nahen Park und verschwindet spurlos. Unaussprechliches scheint sich im Hause zugetragen zu haben und die Eltern hüllen sich in Schweigen oder Ausflüchte – währendessen schwindet die Hoffnung, den Jungen noch lebend wieder zu finden.

Der junge Detective Jack Caffery, dessen eigener Bruder im selben Alter wie Rory spurlos verschwand, wird auf diesen mysteriösen Fall angesetzt. Auf einem schmalen Grat zwischen professioneller Polizeiarbeit und seinen privaten Rachegelüsten rückt Jack Caffery seinem Intimfeind Pendericki auf die Pelle und dringt in die international vernetzten Kreise der Pädophilen ein. Als die Ermittlungen sich „allmählich zu einem monströsen Bild fügen“, droht er endgültig die Kontrolle zu verlieren. Derweil hat sich der Täter aber schon längst eine neue Familie für sein perverses Verlangen ausgeguckt…

Mit einer ungeheuren Souveränität versteht es Mo Hayder im permanenten Wechsel der verschiedenen Handlungsstränge und Perspektiven die Spannung auf höchstem Niveau zu halten. Fieberhaft verfolgt der Leser die detailreich und authentisch geschilderte Ermittlungsarbeit, bei der Inspektor Caffery und seine Kollegen so manches Mal dem Aufklärungserfolg „unendlich nahe“ kommen und dann doch auf Grund dummer kleiner Zufälle oder Nachlässigkeiten scheitern – und so weiteres, unendliches Leid nicht verhindern können.

Tabulos und bis an die Grenze des Erträglichen leuchtet Mo Hayder in ihrem zweiten Thriller die im Verborgenen wuchernden, schier grenzenlosen sexuellen Perversionen unserer Zeit aus. Ihre Prosa ist dabei schon erstaunlich ausgereift und ihre immer etwas schrägen oder problematischen Charaktere sind fein nuanciert – sei es Rebecca, die Freundin von Detective Caffery oder auch das Personal des sympathischen Ermittlungsteams mit der lesbischen Vorgesetzten Danni Sousness. Nicht zuletzt vermittelt Mo Hayder auch viel Londoner Lokalkolorit und Lifestyle, insbesondere aus dem Multi-Kulti-Stadtteil Brixton. Doch im Zentrum des Geschehens pocht immer das Grauen und jagt dem Leser unter die Haut und hart an die Nieren, wo es noch lange nagt.

Karsten Herrmann

Mo Hayder: Die Behandlung. Goldmann, 500 S., 22,90 Euro. ISBN 3-442-30870-4