Geschrieben am 6. Juni 2012 von für Bücher, Litmag

Michael Streissguth: Johnny Cash At Folsom Prison. Die Geschichte eines Meisterwerks

Das Publikum lauschte gefesselt

– Joe Paul Kroll über Michael Streissguths Buch „Johnny Cash At Folsom Prison”, das die Entstehungs- und Wirkgeschichte eines musikalischen Meilensteines erzählt.

Durchschreitet man zu Museen umgewandelte Gefängnisse aus dem 19. Jahrhundert, kommt man schnell zum Schluss, der Strafvollzug habe sich inzwischen humanisiert – wohl aus keinem besseren Grund, als dass er sich einfach humanisiert haben muss. Das Bild vom Gefangenen, der mit einer Eisenkugel am Fußgelenk Steine klopft, gehört tatsächlich eher in „Lucky-Luke“-Comics denn in die heutige Wirklichkeit. Doch die schlichte Wahrheit bleibt, wie Adam Gopnik es jüngst in einem beeindruckenden Essay im „New Yorker“ auf den Punkt brachte: „Mit Gefängnissen ist es so: Da sind Gitter vor den Fenstern, und man darf nicht hinaus.“*

Gopniks Essay ist eine Anklage des amerikanischen Strafrechts und Justizvollzugs heute, einer Situation, die ein kaum eingestandenes Problem, einen Schandfleck gewaltigen Ausmaßes darstellt: „Eine historisch beinahe beispiellose Masseneinkerkerung ist heute eine Grundtatsache unseres Landes – vielleicht die Grundtatsache, wie es die Sklaverei um 1850 war.“ Auf 100 000 Amerikaner kommen derzeit 731 Gefängnisinsassen, mehr als dreimal so viele wie noch 1980. Die Gründe dafür sind so vielfältig wie verstörend, doch stützen sie alle Gopniks Befund: „Ausmaß und Brutalität unseres Gefängniswesens sind ein moralischer Skandal des amerikanischen Lebens.“

Nach Anklagen in der Populärkultur sucht man jedoch vergeblich. Dem Thema fehlt die Distanz, aus der sich guten Gewissens urteilen lässt, und Sträflinge dürfen sich in einer verängstigten und gespaltenen Gesellschaft kaum Hoffnung auf Mitleid machen. Doch 1968, zu einer Zeit, da Theorie und Praxis den Fortschrittsgedanken noch nicht ganz unglaubhaft gemacht hatten, war vieles möglich. 1968 veröffentlichte Johnny Cash ein Livealbum, das er in einem kalifornischen Hochsicherheitsgefängnis aufgenommen hatte. Dieses Album, das unter dem Titel „Johnny Cash At Folsom Prison“ berühmt geworden ist, versteht der Cash-Biograf Michael Streissguth als mutige Stellungnahme zugunsten der Strafgefangenen: „Keiner von Cashs Kollegen in der populären Musik traute sich jemals, seine Musik dermaßen kompromisslos einzusetzen…“.

In dieser neu gestalteten Ausgabe seines zuerst 2006 auf Deutsch erschienenen Buches verfolgt Streissguth ein weiteres Anliegen: Dem Album seinen rechtmäßigen Platz im Pantheon zukommen zu lassen, in dem es nach wie vor von zeitgleich  erschienen Alben der psychedelischen Blütezeit überschattet werde. Das ist allerdings nicht als Kulturkampf um die Seele der Sechziger mißzuverstehen, sondern als Plädoyer, diese Platte, deren Unmittelbarkeit Streissguth in jenem Jahr der barocken Experimentierfreude als konkurrenzlos betrachtet, als genuinen Ausdruck der Protestbewegung aufzufassen.

So wird als Hintergrund denn auch die schauerliche Geschichte von Folsom Prison ebenso geschildert wie die rauen Sitten im Gefängnis, den Rassismus und die Banden, die innerhalb der Gefängnismauern ein paralleles Rechtssystem aufrecht erhielten. Die Schwächen dieses Vollzugssystems, nicht zuletzt eine Rückfallquote von 70% im Jahr 1968, waren schon damals offensichtlich. Dies war also der Hintergrund, vor dem Johnny Cash und seine Band im Gefängnis spielten – und dies übrigens nicht zum ersten Mal: Über dreißig Gefängnisauftritte hatte Cash seit 1957 absolviert, einmal saß auch der junge Merle Haggard nicht ganz freiwillig im Publikum.

Der Weg nach Folsom begann jedoch in Bayern. Streissguth verfolgt Cashs Weg vom Air-Force-Funker in Landsberg, dessen Festung und die umliegenden Konzentrationslager ihn erstmals für das grauen der Gefängnisse sensibilisiert haben sollen – und wo er seine ersten Akkorde auf der Gitarre lernte. Und schon 1953, unter dem Eindruck des Films „Inside the Walls of Folsom Prison“, schrieb er eines seiner berühmtesten Lieder: „Folsom Prison Blues“. Cash habe nach eigenem Bekunden schildern wollen, „wie ich mir das Leben im Gefängnis vorstellte.“ Wie nebenbei leiste er damit auch einen wesentlichen Beitrag zum eigenen Outlaw-Mythos. Allerdings erfahren wir auch, dass Cash hier nicht als vollendeter Songschreiber aus dem Nichts erschien, sondern sich recht frei bei Gordon Jenkins’ „Crescent City Blues“ bedient hat.

Es folgt eine Schilderung von Cash Werdegang in den 50er und 60er Jahren, seiner mühseligen künstlerischen Selbstfindung im Spannungsfeld zwischen einer traditionalistischen Country-Industrie, dem aufkeimenden Rock & Roll und dem noch als „race music“ marginalisierten Blues – allen dreien bot Cashs erster Label-Boss Sam Phillips bei Sun Records eine Heimat. Wie auch bei Elvis Presley schien Cashs Wechsel zu einem Major-Label Einbußen an Freiheit zu bedeuten, wobei sich dieser bei allen kreativen wie biografischen Irrwegen doch ein höheres Maß an künstlerischer Freiheit zu bewahren vermochte. Der 1964 aufgenommene Kontakt zu Bob Dylan markiert da nur die mythologische Summa einer wenig beachteten gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Gegenkultur und dem Country-Mainstream. So konnte Cash immerhin auf wohlwollende Beachtung hoffen, die allerdings weder gegen sein weiteres Abrutschen in Drogen noch gegen die schwindende Qualität seiner Darbietungen auf der Bühne und im Studio etwas ausrichten konnte.

Die Erlösung, von der Cash im Januar 1968 im Gefängnisauditorium sang, war denn auch nicht zuletzt die eigene. Als Gewährsmann diente ihm jedoch ein in Folsom einsitzender Räuber. Als weiterer Strang wird damit die Geschichte um den Amateur-Songschreiber Glen Sherley eingewoben, dessen (zugegebenermaßen etwas rührseliger) Song „Greystone Chapel“ Cash über den Gefängnispastor erreicht hatte und der an diesem denkwürdigen Tag seine Premiere erfuhr:

Inside the walls of prison, my body may be / But he Lord has set my soul free. Der Song versprach der perfekte Höhepunkt des Dramas zu werden, das Cash auf der Bühne inszenieren wollte, eine Botschaft der Erlösung, die von einer jener kriminellen Seelen stammte, die er mit seiner Show zu unterhalten gedachte.“

Denn eine Show sollte es schon sein, einer Dramaturgie folgend, die sich auf dem erst mit der CD-Neuausgabe vollständig vorliegenden Konzertmitschnitt nachvollziehen lässt – wobei auch hier in Wahrheit die besten Aufnahmen aus zwei aufeinander folgenden Auftritten zusammengeschnitten wurden. Doch härter dürfte manchen Fan die Enthüllung treffen, dass auch der Jauchzer der Freude oder Zustimmung, der auf die berühmte Zeile „I shot a man in Reno / Just to watch him die“ antwortet, im Studio hineinmontiert wurde.

Der Verlauf der Konzerte wird detailliert nachgezeichnet und mit prachtvollem Bildmaterial illustriert. Nicht minder interessant ist jedoch, was Streissguth zur Rezeption von „At Folsom Prison“ zu sagen hat. Das Album festigte Cashs Brücken zur Alternativkultur, die ihrerseits gerade die erste Blüte des Country-Rock hervorbrachte. Doch Streissguth hebt auch hervor, wie wenig das Album bei aller selbst 1968 ungewöhnlichen thematischen Härte als sozialkritisches Statement wahrgenommen worden sei – überdeckt wohl auch, wie er vermutet, durch Cashs Bekenntnisse zu Kirche und Vaterland, mit denen er sich im Jahr von Nashville Skyline anscheinend auf die Seite Nixons schlug. Die Protestbewegung reagierte daraufhin mit einem Liebesentzug, den auch Cashs spätere Distanzierung nicht ganz rückgängig zu machen vermochte – so dass der durchschnittliche Hipster erst mit dem unter der Ägide Rick Rubins entstandenen Spätwerk den Rebellen Cash wiederentdeckte.

Kommerziell konnte Cash jedoch auf dem Erfolg aufbauen – schon ein Jahr später mit „At San Quentin“, einem Album, das allerdings auch schon den Versuch darstellt, aus dem Folsom-Mythos Kapital zu schlagen. Dennoch argumentiert Streissguth überzeugend, dass „At Folsom Prison“ Johnny Cash langfristig auch künstlerisch gerettet hat. Das Album und wohl auch die Intensität des Auftritts hätten ihn, wie ein ungenannter Kritiker mutmaßte, davor bewahrt, mit abnehmendem Erfolg durch die Provinz zu tingeln.

Dass Cash nun auch unter Rock-Fans Gehör gefunden hatte, ist das Eine. Doch Streissguth versäumt auch nicht, dem Album seinen Platz in der Geschichte der Country-Musik zuzuweisen. Und dort erweist sich „At Folsom Prison“ tatsächlich als wegweisend: „Sein in Folsom herausgebrülltes Statement war ein Beweis dafür, dass die Country-Musik die condition humaine mit schonungslosem Realismus zu kommentieren vermochte.“ – Schonungslos, möchte man hinzufügen, wenn auch innerhalb eines Narrativs von Sünde und Erlösung, das sich auch an der Liedfolge des Albums ablesen lässt. Aber gerade darin bleibt das Album dem Country verpflichtet, und nur so konnte es Impulse zu einer Wiederbesinnung auf die Wurzeln dieses Typs der Amerikanischen Populärmusik geben, der vielleicht mit den meisten Vorurteilen außerhalb seiner Gemeinde zu kämpfen hat.

Dass Johnny Cash sein Engagement für die Strafgefangenen schließlich zurückfuhr, liegt vermutlich auch am weiteren Verlauf der Geschichte Glen Sherleys. Dieser ist der stille Antiheld des Buches, das sich von anderen Album-Monographien durch die Breite seines Blicks ebenso wohltuend abhebt wie durch die Zurückhaltung des Autors seine eigene Person betreffend. Streissguth zeigt, warum „At Folsom Prison“ hörenswert ist – als fantastische Platte sowieso, aber auch als Anklage, die leider noch an Dringlichkeit hinzugewonnen hat.

Joe Paul Kroll

Michael Streissguth: Johnny Cash At Folsom Prison. Die Geschichte eines Meisterwerks. Übersetzt von Fritz Schneider. Rogner & Bernhard, Berlin 2012. (Deutsche Erstausgabe 2006.) 110 s/w-Abbildungen. 224 Seiten. 14,99 Euro. Das Buch erscheint als HardcoverPlus (tatsächlich handelt es sich um eine Klappenbroschur) – dem gedruckten Buch liegt ein Code zum Download eines E-Books bei.

* Zitate übersetzt aus Adam Gopnik, „The Caging of America“, The New Yorker, 30. Januar 2012. Vgl. auch Christopher Glazek, „Raise the Crime Rate“, n+1 Nr. 13 (Frühjahr 2012).

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