Im munteren Plauderton
– Michael Maar blättert sich durch große Tagebücher von Viktor Klemperer bis Rainald Goetz. Von Joachim Feldmann.
Eigentlich stand der Vorsatz fest. Nie wieder würde man sich von einem Subskriptionsangebot für die Gesamtausgabe eines legendären Tagebuchs verführen lassen, oder, sagen wir mal, man würde zumindest so lange warten, bis wenigstens einer der (bislang) acht prachtvollen rotleinenen Bände des Harry Graf Kessler’schen Diariums, die seit geraumer Zeit einen Ehrenplatz im Bücherregal einnehmen, in Gänze gelesen worden wäre. (Ehrenplatz heißt übrigens, dass man auf eine kleine Leiter steigen muss, um die bei ihrem Erscheinen mit großem feuilletonistischem Hurra begrüßte Ausgabe zu erreichen.)
Allein, es konnte nicht gelingen. Kaum hatte der Herr Haffmans angekündigt, die Tagebücher der Brüder Goncourt in deutscher Übersetzung zu präsentieren, war man dabei. Und nun steht eine Kassette mit den „Erinnerungen aus dem literarischen Leben“ der Pariser Schwerenöter neben dem Schreibtisch, denn im Regal ist kein Platz mehr. Manchmal nimmt man einen der wunderschön gestalteten elf Bände zur Hand und blättert ein wenig darin. Fast immer stößt man auf eine zitierwürdige Notiz, zum Beispiel gerade auf folgenden Eintrag vom 16. Januar 1865: „Seltsam, das literarische Leben! Bei jedem Band die Furcht vor etwas Unangenehmem; jede Veröffentlichung eine Gefahr. Die Furcht, nicht genug Erfolg zu haben, oder, wenn er zu groß ist, die wie es weitergehen soll.“ Eine Bemerkung von zeitloser Gültigkeit, wie die just erschienene zweite Lieferung der Tagebücher des einst so einflussreichen Kritikers Fritz J. Raddatz belegt. Man lese die Passagen, in denen es um die Publikation seiner Autobiographie „Unruhestifter“ geht: „Das unheimliche Buch. Es wirft jetzt schon, lange vor Erscheinen, Schatten voraus. (6. Juni 2003) Einige Monate später, am 7. November des Jahres, folgt die (nur scheinbare) Erleichterung: „[…] welches Buch hat solch ein Echo?!? Es scheint, es wird das most-talked-about-book, von dem eben jeder spricht, das man aber nicht kauft und nicht liest, das man beplaudert.“ Was sich im Dezember bestätigen soll: „Aber von rasenden Verkäufen höre ich nichts, […]“.
Der Mann hat Sorgen. Hat er nicht einen stattlichen Vorschuss kassiert und immer noch Geld genug für Champagner, Austern und Gänseleberpastete? Man möchte aufstöhnen bei der Lektüre, aber ist dies nicht auch exakt der Grund, warum man sich das Buch überhaupt zugelegt hat? Schließlich ist die Indiskretion, ja Schamlosigkeit eines Tagebuchautors ein stärkerer Lektüreanreiz als kluge Einsichten in die Zeitläufte, wie sie bei Graf Kessler nachzulesen wären, dessen Aufzeichnungen „ein Muster von Selbstzurücknahme und Takt“ seien.
Abwechslungsreiche Angelegenheit
Letzteres Urteil entstammt dem Buch, das es hier zu empfehlen gilt. Michael Maar, bekannt für seine detektivischen Untersuchungen zur Literatur von J.K. Rowling und Georg Klein bis hin zu Nabokov und Thomas Mann, hat sich den „großen Tagebüchern“ gewidmet und präsentiert seine Lesefrüchte im munteren Plauderton. Was nicht heißen soll, dass die Gegenstände seiner Betrachtungen durchweg heitere wären, im Gegenteil. „Sonntagsausflug verboten“ sind die Seiten überschrieben, die sich Tagebüchern aus der NS-Zeit, vor allem denen des Romanisten Viktor Klemperer, widmen. Beispiele für die bösartige Seite des menschlichen Charakters findet er aber auch in früheren Epochen. So schildert der Herzog von Croÿ, ein Marschall im Dienste des französischen Königs Ludwig XV. Hinrichtung eines geisteskranken Attentäters in all ihren grausamen Details. Die Ironie des Umstands, dass dieses herzogliche Tagebuch vor einigen Jahren ausgerechnet unter dem Titel „Nie war es herrlicher zu leben“ (mit großem Erfolg) veröffentlicht wurde, entkommt Maar nicht.
Doch allzu lange mag auch er nicht bei historischen Abscheulichkeiten verweilen. So lässt er ein Kapitel mit der Tagebuchnotiz einer 15-jährigen Berlinerin, die am 27. Februar 1943 zunächst einen Opernbesuch und dann die Deportation jüdischer Nachbarn beschreibt, enden, um das folgende mit dem Hinweis, „nicht jedes Tagebuch“ entstehe in „historisch dramatischer Zeit“ zu beginnen. Und schon ist er im Heute und dem Internet-Tagebuch des Autors Rainald Goetz angelangt. Diese, manchmal gezwungen wirkenden, thematischen Sprünge machen die Lektüre zu einer abwechslungsreichen Angelegenheit. Gelegentlich scheint es allerdings, als ob Michael Maar über einen ganzen Zettelkasten interessanter Anekdoten und Zitate verfügt, die unbedingt Eingang in sein Büchlein finden sollten. Wie man von den Tagebüchern der Goncourts, („über die sich seinerzeit schon Marcel Proust amüsiert hatte“), auf den Schriftsteller Pierre Loti, der die Frage, ob es seiner Familie Seeleute gegeben hätte, mit der Sottise „Ja, ich hatte einen Onkel, der auf dem Floß der Medusa aufgefressen wurde“ beantwortet habe, kommt, vermag wohl nur der Autor selbst zu erklären. Aber das ist bei manch einer assoziationsreichen Partyplauderei ja nicht anders. Und kommt dem zerstreuten Interesse derer, die gerne in den privaten Aufzeichnungen fremder Menschen blättern, sehr entgegen.
Es sei in diesem Zusammenhang auch noch verraten, dass das ursprüngliche Interesse an Michael Maars essayistischem Streifzug durch die Tagebuchliteratur auf der zu flüchtigen Lektüre einer Bücherliste beruhte. „Heute bedeckt und kühl. Tagebücher“ mag es da geheißen haben, was die Vorstellung, hier könne man erfahren, was ein belesener Kopf wie Maar so treibt, wenn er die Nase nicht in Bücher steckt, weckte. Hat er einen geregelten Tagesablauf wie Raddatz, der jeden Morgen um 8.15 aufsteht, um neun schwimmt und um zehn frühstückt, oder geht es im Hause Maar eher spontan zu? Treibt man Sport? Schaut man gelegentlich auch mal fern? „Die Alltäglichkeiten sind es, die diese Aufzeichnungen so interessant machen“, zitiert Maar seinen Gewährsmann Walter Kempowski, der eine ganze Nacht über dem berühmten Tagebuch des Samuel Pepys verbracht hat. Also wird die Frage, was uns all das überhaupt angehe, fröhlich ignoriert.
Joachim Feldmann
Michael Maar: Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf. München. C.H. Beck 2013. 19,95 Euro. 258 Seiten.