Vollgasprosa und Jazz-Hommage
–Mit „Telegraph Avenue“ legt Michael Chabon einen fulminanten Roman über einen kultigen Plattenladen und die Möglichkeit einer echten Freundschaft zwischen schwarz und weiß zu Beginn dieses Jahrtausends vor. Zugleich ist der Roman eine monumentale Huldigung an den Jazz, Soul und Funk, an die schwarze Seele der Musik in all ihren Schattierungen. Von Karsten Herrmann
Die titelgebende „Telegraph Avenue“ liegt an der Grenze zwischen Berkeley und Oakland, also zwischen dem kalifornischen Hippie-Campus schlechthin und der schwarzen Arbeiterstadt. Hier betreiben der schwarze Archy Stallings, ehemaliger Elektriker und Golfkrieg-Veteran, und der Jude Nat Jaffe den Plattenladen „Brokeland Records“. Er ist ein Reservat für Jazzliebhaber und Vinyl-Fetischisten, für skurrile Ex-Musiker mit einem Papagei auf dem Rücken, für Bestattungsunternehmer mit krimineller Vergangenheit und für korrupte Stadträte. Sie alle tummeln sich in diesem aus der Zeit gefallen Ort, stöbern, fachsimpeln, quatschen über die alten Zeiten. In „Brokeland Records“ geht es „nicht um die Ware und eigentlich genauso wenig um Nostalgie. Es ging um das Viertel, um den Ort, wo gemeinsames Leid in gemeinsamer Leidenschaft ertränkt werden konnte“. Doch dann will der ehemalige Football-Star Gibson Goode, fünftreichster Schwarzer Amerikas, ein Musik-Megastore seiner Kette namens „Dogpile“ direkt neben Brokeland eröffnen und bedroht das Paradies.
Der Kampf gegen den Filialisten, der Archy auch noch als Geschäftsführer gewinnen will, bildet den roten Faden und die treibende Kraft des Romans. Doch daneben fädelt Michael Chabon noch eine Vielzahl von komplex miteinander verwobenen und durch die Zeiten flottierenden Handlungssträngen ein – so die der schwarzen und weißen Hebammen Gwen und Aviva, den Frauen der Protagonisten, oder die von Archys Vater, einem Star des Blaxploitation-Kinos der siebziger Jahre, der mal wieder in Schwierigkeiten steckt und hoffnungslosen Träumen über sein Comeback nachhängt. Und dann taucht auch noch Titus auf, ein unehelicher Sohn von Archy, der das Familienleben endgültig durcheinanderbringt und mit Nat Jaffes Sohn Julie anbändelt.
Michael Chabon ist ein Autor mit ungeheurer Fantasie und Fabulierkraft, der seine Romane mit einer Vielzahl von popkulturellen Zitaten aus Musik-, Mode-, und Filmgeschichte auflädt und fast nebenbei den „Diversity“-Diskurs und die Spielarten des Rassismus im Schmelztiegel Amerika abhandelt. Die Vollgas-Prosa des Pulitzerpreisträger ist dabei schon fast übersättigt mit einer überaus sinnlichen, sirrenden Wirklichkeit, mit detailreichen, assoziativen Beschreibungsketten im Stile folgender Eingangsszene: „Mondgesichtig, massig und mild bekifft stand Archy Stallings […] in einem rehbraunen Kordanzug und einem kürbisfarbenen Rollkragenpullover, der seine berüchtigte, aber nicht unvorteilhafte Ähnlichkeit mit Gamera betonte, der riesigen, fliegenden Mutantenschildkröte aus dem japanischen Kino, hinter dem Verkaufstresen von Brokeland Records.“
„Telegraph Avenue“ ist ein sprachgewaltig und unendlich hipp erzählter Roman, der eine ideale Vorlage für den nächsten Tarantino-Film abgeben könnte. Allerdings fehlt es ihm ein wenig an psychologischer Tiefe der Figuren und sein Spannungsbogen droht unter den unzähligen Handlungssträngen und einer hoch frequenten Bilder-, Metaphern- und Assoziationsflut ohne Atempause zu versanden. Manchmal ist weniger mehr.
Karsten Herrmann
Michael Chabon: Telegraph Avenue. Aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Fischer. Kiepenheuer & Witsch, 590 Seiten. 24,99 Euro.