Geschichte in lebendigem Vollzug
– Es gibt wohl kein ergiebigeres Thema für einen Literaten als die Kindheit: zurückzugehen an die Wurzeln unseres Lebens. Jede Geschichte einer Person fängt dort an, und damit endet sie auch, ironischer Weise, im Alter. Die ersten Eindrücke, die ein Mensch in der Welt erfährt, sind die bleibenden, und das Leben scheint nichts anders zu sein als ihre Entfaltung über die Jahrzehnte hinweg, die uns gegeben sind. Von Michael Zeller
Es ist beileibe keine Eitelkeit, kein Akt von Selbstverliebtheit, wenn sich Schriftsteller gerade im Alter über die ersten Jahre ihrer Existenz beugen und kindlicher Welterfahrung habhaft zu werden versuchen. Sie tun das stellvertretend für uns alle. Und deshalb sind für einen Lesenden die Freuden des Wiedererkennens nirgendwo größer und erregender als in den Geschichten aus einer Kindheit.
„Ende des Vogelgesangs“ heißt die neue Erzählung von Michael Buselmeier. Darin lässt der Autor, Jahrgang 1938, eine „Kindheit“, wie im Untertitel vorgegeben, lebendig werden: die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs in einer deutschen Stadt (Heidelberg) und die Jahre danach, die von Entbehrung, Not und Hunger gezeichnet sind. Mit schmerzlicher Genauigkeit erinnert sich der Chronist, ohne Rücksicht auf sich und andere, zu der man sich im Erwachsenenalter später meistens verpflichtet fühlt. Vor einem heutigen Leser öffnet sich ein Buch voller Bilder, Farben, Gerüche, von Träumen und Ängsten, mit Augenblicken des Glücks und des Schreckens. Gleichzeitig entsteht unter der Hand ein Lebenspanorama der Jahre 1940 bis etwa 1955, das jede fachliche Analyse eines Historikers in den Schatten stellt: Geschichte in ihrem lebendigen Vollzug, Tag für Tag.
Vergessenes und Verdrängtes liegen darin bloß, jüngere deutsche Vergangenheit: das Trümmerland in Rauch und Ruinen. Der „Kohlenklau“, der „nach Müll und ranzigem Öl stank“ und eines Tages aus der Stadt verschwunden ist. Die neue Untermieterin in der engen Mietwohnung, wie sie „auf dem Schwarzmarkt ein Erbstück nach dem anderen eintauschte gegen Kaffee, Zigaretten und Alkohol“. Der „Hauspäderast“, „Onkel H.“, der sich an dem vaterlosen „Schlüsselkind“ vergreift. Das „Glücksgefühl, verbunden mit jähem Herzpochen“, wenn der kleine Junge das „blonde Flüchtlingsmädchen Poldi“ im Rahmen eines Gesellschaftsspiels umarmt.
Mit dem geschärften Blick des Außenseiters schaut Buselmeiers kindlicher Held auf und in die Welt, einer, der viel allein mit sich abmachen muss. Der Junge ist unehelich geboren und wächst ohne Geschwister nur mit seiner Mutter heran, in bedrängten Verhältnissen. Doch bald brechen sich aus dieser Isolation, gesucht oder nicht, ganz eigene Wege ihre Bahn. Die Natur um ihn wird ihm zum Kameraden, zum Vertrauten: das selbstvergessene Spielen in Sand und Wasser, die körperliche Vertrautheit mit Feuersalamandern, Maikäfern, dem Kater Nepomuk. „Diese weiten Räume der Kindheit unter hellen Himmeln, die ganz langsam, kaum merkbar vergehende Zeit, die daraus erwachsende Sorglosigkeit, das Abtauchen im Gebüsch mit Rauchholz, Lakritz und roten Drops.“ Aus dieser intimen Naturnähe wird später der Lyriker Buselmeier seine schönsten Gedichte schreiben. Bereits früh versucht er sich daran, im Wort das Gesehene und Empfundene festzuhalten. Auf dem Blatt eines seiner ersten Gedichte, „Theoderichs Tod“, findet sich noch die Anweisung der Mutter: „Vergiss nicht, die Treppe zu kehren!“
Wer Michael Buselmeiers Kindheitsgeschichte „Ende des Vogelgesangs“ liest, wird, egal, wie alt er sei, sehr viel von dem Kind entdecken, das er einmal war. Über die jeweiligen Zeitläufe hinweg ist Kindheit die genialste Epoche gewesen von uns allen, und wenn man alt genug geworden ist, darf man sich dem auch ohne jede Scham stellen. Das Kind ist die Mutter des Erwachsenen, hat einmal ein kluger Mensch gesagt.
Michael Zeller
Michael Buselmeier: Ende des Vogelgesangs. Eine Kindheit. Morio-Verlag Heidelberg, 2015. 160 Seiten. 17,95 Euro.