Hunger und Liebe: Von schönen Momenten in einem unentschiedenen Buch
Licht und Schatten und ein nicht sehr kompetentes Lektorat. Krimikultur à la Suhrkamp? Henrike Heiland ist gerecht …
Der Kommissar sieht Gespenster. Aber nur von den Toten, die ein gewaltsames Ende fanden. Und er hört ihre letzten Gedanken. Man könnte auch sagen: Die Toten sprechen zu ihm. Sie hängen in Bäumen oder liegen an der Straßenkreuzung. Der Kommissar fühlt mit ihnen. Überhaupt ist er ein sensibler Kerl, dieser Kommissar.
Neapel, Anfang der 30er Jahre: Es herrschen Winterkälte und Faschismus. Commissario Ricciardi müsste eigentlich gar nicht arbeiten. Er entstammt einer reichen Adelsfamilie, aber er verbringt lieber die Tage als Polizist und die Nächte in Gedanken immer noch bei den Toten. Hunger und Liebe, weiß er, treiben die Menschen um. So auch ihn. Diesmal stirbt ein berühmter Opernsänger, ach was, der berühmteste überhaupt: Arnaldo Vezzi. Caruso war ein Dreck gegen ihn, und der Duce findet ihn richtig klasse. Weshalb der Druck aus Rom in diesem Fall enorm ist: Man will schleunigst Resultate, am liebsten vorgestern.
Premiere hätte Vezzi an diesem Tag gehabt, aber jemand schlug ihn nieder und rammte ihm eine Spiegelscherbe in den Hals. Der Kommissar sieht den Toten vor sich, wie er singt, von Blut und Zorn und Liebe, die in Hass endet. Die gesamte Theatergesellschaft ist in Aufruhr, und einzig der Priester Don Pierino, ein ausgewiesener Opernkenner, kann dem Kommissar helfen, nach und nach Klarheit in den Mord zu bringen. Vezzi, so stellt sich heraus, war zwar ein begnadeter Sänger, ansonsten aber ein Ekelpaket, das Seinesgleichen sucht. Motive, ihn zu ermorden, lieferte er jedem, dem er auch nur „Guten Tag“ sagte.
Ein schöner Ansatz
Es ist ein schöner Ansatz, den Maurizio de Giovanni für seinen Commissario Ricciardi gewählt hat: Ein junger Mann, um die 30, umgeben von einer Aura aus unbezwingbarem Schmerz, gesegnet und verflucht mit der Gabe, die gequälten Seelen sehen zu können. Ricciardi glaubt nicht an Gott, hat irritierend grüne Augen, und statt zu heiraten, liebt er das fremde Mädchen im Nachbarhaus, dem er jeden Abend heimlich aus dem Dunkel seines Zimmers heraus beim Sticken zusieht. Der Suhrkamp-Verlag nennt Ricciardi übrigens charismatisch.
Ricciardi könnte in der Tat eine ganz wunderbare neue Kommissarfigur sein. Vielleicht ein bisschen wie ein melancholischer, junger Dr. Siri. Doch statt ihn öfter mal einfach loszulassen, stopft de Giovanni ihn in Szenen, zu denen er sich aufgrund des Genres verpflichtet fühlt. Er lässt den wortkargen Kommissar durch wenig kunstvolle Vernehmungsdialoge holpern, und kaum ein Kapitel vergeht, in dem der Leser nicht daran erinnert wird, dass Ricciardi ein trauriger, vom Schmerz gefangener, schweigsamer Typ ist, mit grünen Augen außerdem. Wenn Ricciardi nun wenigstens noch ein klein wenig Selbstironie hätte. Oder einen Bruchteil von Dr. Siris Witz. Hat er aber auch nicht.
Dabei sind die ersten 20 Seiten schlicht bezaubernd und lassen Großes hoffen. Maurizio de Giovanni kann nämlich wirklich mitreißende Prosa schreiben, besonders wenn er Figuren einführt. Es ist ein Genuss, die intensiven Beschreibungen einzelner Charaktere zu lesen, ihre Lebensgeschichte, ihre Lebensweise. Er ist ganz in seinem Element, wenn er die dunklen Seiten der Stadt erzählt, die zwei Seelen Neapels erklärt. Aber irgendwann muss er zurück zur Krimihandlung, und dann strauchelt er, wenn nicht gerade über die Dialoge, dann über die Erzählperspektive. Mal verknüpft er Szenen kühn miteinander, die zeitlich weit auseinander liegen, um sie am Kapitelende elegant an einem Punkt zusammenlaufen zu lassen. Dann wieder haut er mit der nächsten Konstruktion meilenweit daneben.
Er schafft es, mit ausgefeilten Charakteren zu verzaubern, man liebt sie, fühlt sie und will bei ihnen bleiben, aber zwei Sätze später verkommen sie zu Figuren der Commedia dell’arte, die sich von einer großen Geste in die nächste werfen. (An der Übersetzung wird es nicht liegen, auch wenn von einem nicht sehr sauberen deutschen Lektorat ausgegangen werden muss, bei den vielen falschen Satzzeichen und Druckfehlern, die sich in dieser Ausgabe tummeln.)
Bei aller Kritik: Immer wieder scheint eine schön gewobene, rührende Geschichte durch, man folgt Ricciardi durch die dunklen Gassen und kalten Nächte, will schließlich wissen, wie es ausgeht, nur um dann zu hoffen, dass hier noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde, dass der empfindsame Kommissar noch eine andere Lösung weiß. Diese Stimmungen hallen nach und bleiben im Gedächtnis, entschädigen für die unbeholfenen Dialoge und die eckigen Gesten. Auf vier Bände ist Ricciardi angelegt, ein Jahreszeitenzyklus, so wie bei Leonardo Padura oder ein bisschen wie bei Johan Theorin. Vielleicht taut die Frühlingssonne Neapels im nächsten Band ein bisschen was weg. Bleibt nur dem Autor zu wünschen, er möge sich lösen von den Genrefesseln, die er sich angelegt hat.
Henrike Heiland
Maurizio de Giovanni: Der Winter des Commissario Ricciardi (Il senso del dolore. L’inverno del commissario Ricciardi, 2007) Roman. Deutsch von Carla Juergens. Frankfurt: Suhrkamp 2009. 250 Seiten. 7,95 Euro.