Geschrieben am 13. März 2013 von für Bücher, Litmag

Maurice Blanchot: Der literarische Raum; Jacques Derrida: Psyche. Die Erfindung des Anderen.

image.php f=636f7665725f7765625f312f313233325f3937382d332d30333733342d3138322d375f3139335f313831372e6a7067Der Wunsch, einen Spiegel zu zerbrechen: Inventionen

– Kein mystifizierender Obskurantismus, sondern Aufklärung 2.0: Das unabgegoltene Anliegen avancierten französischen Denkens wird mit dem Jahrzehnte überfälligen Erscheinen zweier Übersetzungen auch dem deutschsprachigen Rezipientenkreis langsam aber sicher nachvollziehbar. Tillmann Reik hat sich die Bände näher angesehen:

Heraklit von Ephesos, der einzig in Fragmenten überlieferte Vorsokratiker, bekam von seiner Zeit den Beinamen ὁ Σκοτεινός (ho skoteinos), der Dunkle, verliehen. Deshalb, fügt Heidegger hinzu, „weil er fragend in die Lichtung denkt“. „Aber seine angebliche Dunkelheit, über welche die Böotier aller Zeiten Klage führen, ist keine gesuchte Geheimnistuerei und keine billige Überheblichkeit“, ergänzt Eugen Fink. Dasselbe Epitheton, diesmal latinisiert, l’obscur, heftet Maurice Blanchot (1907–2003) einer seiner frühen Romanfiguren an: Thomas dem Dunklen. Für Blanchots Schriften ist damit, neben dem konstitutiv Fragmentarischen, ein Charakteristikum bezeichnet, das dem erzählerischen wie essayistischen Werk gleichermaßen eignet: Es entzieht sich der Forderung nach klarer und deutlicher Darstellung nicht wirklich, und der didaktischen Verantwortung, die damit einhergeht, sondern übersteigt sie. Hin zu einer illuminierten Überdeutlichkeit, die Ausführlichkeit und Akkuratesse der Gedankenführung exerziert, welche den Eindruck von Hermetik und Opazität vor allem deshalb erzeugt, weil es schwer wird, einen unmittelbaren Ertrag (in Gestalt spruchweisheitlicher, formelhafter Lehrsätze) daraus zu ziehen. Nicht aus Geheimnistuerei oder billiger Überheblichkeit, wie der Vorwurf des Obskurantismus es will, mit dem eine auf unmittelbaren Ertrag versessene Lektüre schnell bei der Hand ist.

Heraklit in der Gestalt Michelangelos, Detailansicht aus Raphaels Die Schule von Athen (1510–1511), Fresko in der Stanza della Segnatura, Vatikan

Heraklit in der Gestalt Michelangelos, Detailansicht aus Raphaels Die Schule von Athen (1510–1511), Fresko in der Stanza della Segnatura, Vatikan

Gleichwohl galten Blanchots luzide Schriften mehr als einer Generation französischer Denker, genannt seien nur Sartre, Foucault, Deleuze, Derrida, Nancy als unerschöpfliche, lichtbringende Bereicherung. Gewinnen kann man mit ihnen nicht, weil sie ergebnishaft Wissen vermitteln, sondern weil ihre Lektüre in einen Strudel verunsichernder Selbstaufgabe ziehen. Dadurch entsteht der Eindruck von einem anders möglichen Denken und Lesen, oder Denken als Lesen, das nicht der Konstruktion und Übermittlung von fertigen Gewissheiten dient, sondern deren Legitimität, deren unbezweifelbare Gültigkeit  schreibend gerade in Frage stellt. Denken als schreibendes Lesen. L’écriture.

Fast könnte man sagen, hier würde „alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige entweiht“ (Marx), geschähe das nicht so subtil und behutsam, so wenig gewaltsam polemisch. Wenn ein Paradigma für das, was wenig später mehr durch Zufall „Dekonstruktion“ heißen wird sich langsam herausbildet, dann geschieht das, neben Heidegger und dessen De-struktion oder Abbau der metaphysischen Verdeckungen, bei Blanchot. Hier tritt es auf unter dem, heutigen Tages von Giorgio Agamben wieder aufgegriffenen, Terminus der  keine Übersetzung trifft den Nagel wirklich auf den Kopf  Entwerkung/Werklosigkeit/Inoperativität/Untätigkeit (aber auch Nichtstun und Müßiggang): désœuvrement.

Erstmals auf Deutsch liegt nunmehr bei diaphanes eine der ersten frühen Aufsatzsammlung von Thomas Blanchot, L’espace littéraire, vor. In einer Übersetzung von Marco Gutjahr, die einzig bedauern lässt, dass nicht alle, in Wahrheit kaum eine!, der deutschen Ausgaben französischer Theorie diesen hier unter Beweis gestellten philologischen Ansprüchen genügen. Der Band ist in übersetzerischer wie editorischer Hinsicht vorbildlich und richtungsweisend; einen Anhang zur Textlage sowie ein umfangreicheres Nachwort eines sich damit als versierten Kenner des vorliegenden Werkes ausweisenden Übersetzers wünschte man sich für manches Schrifttum aus dem französischen Raum ebenso. Die vorliegenden Ausgaben der Schriften Jean-Luc Nancys etwa lassen es größtenteils konsequent daran fehlen. Erkundet wird der Raum der Literatur, der für Blanchot keine überbordende Sinnfülle offeriert, sondern vielmehr von Leere, Schweigen, Einsamkeit, Umherirren, Unbeendbarkeit und Unlesbarkeit geprägt ist, anhand von minutiösen Analysen der Werke Kafkas, Hölderlins, Rilkes, Mallarmés, Giacomettis, u. a.

9783709200414Psyche

„Es geht hier darum, über einen Spiegel und über die verwirrende Logik dessen zu spekulieren, was man seelenruhig den Narzißmus nennt. Schon in der Geste, die darin besteht, zu veröffentlichen, liegt etwas Selbstgefälliges. Schlicht und einfach zu veröffentlichen. Diese erste Selbstgefälligkeit ist elementar, keine Leugnung oder Verneinung könnte sie auslöschen.“ (Vorwort, S.12)

Dunkel, gegenaufklärerisch, obskurantistisch sowie manieristisch, effektverliebt, ornamental ohne Substanz und narzisstisch zu sein, hatten und haben auch die Exerzitien eines anderen französischen „Postrukturalisten“ den Ruf: jene Jacques Derridas, der auf gewisse Art als Schüler und Freund Blanchots, diesen in vielen Punkten beerbt.

Auch von ihm liegt bei Passagen erschienen nun die erste deutschsprachige Übersetzung einer Schriftensammlung vor: allerdings nicht vollständig. „Psyche I. Die Erfindung des Anderen“ enthält nur diejenigen Aufsätze des Originals, die nicht anderswo publiziert bereits verstreut erscheinen sind; 6 von 16. Außerdem ist „Vielzahl ja“ beigegeben; ein Text, der in der Éditions Galilée erst in Psyché II auftaucht. Ist es legitim, gerade angesichts der Derridaschen Theorie, mangelnde Vollständigkeit und fragmentierte Verstreuung zu beklagen? Immerhin ist die im Vorwort (das Texte wie No Apocalypse, not now erwähnt, die in der vorliegenden Edition dann doch fehlen) von Derrida entwickelte Idee von Text-Formationen, die (im Original) verstreute Texte zusammenträgt und in eine bestimmte Konfiguration bringt, derart nur schwer zu realisieren.

Die Zerstreuung bleibt und stellt sich gegenüber dem Versuch der Versammlung als entscheidender heraus. Vielleicht ein – gewollt, ungewolltes – quod erat demonstrandum? Womöglich erweist sich gerade diese Deutung von Formation („Konfiguration in der Verschiebung“) als dem Derrida’schen Impetus Gerechteste, welche nicht auf Vollständigkeit und Stabilität fester Konstellationen besteht, sondern das Transitorische sich immer wieder auflösender und neu zusammensetzender Schwärme darin mitdenkt und affirmiert.

Psyché_artdeco

Psyché, im Original mit Accent, verweist neben dem antiken Begriff für Seele und Beseeltes, dem Gegenstand der Freud’schen Theorie und der Gattin des Eros auch auf einen „lebensgroßen Dreh- und Kippspiegel“. Im titelgebenden, umfangreichsten Text des Bandes (1987 im Original, 2011 bereits schon einmal in deutscher Einzelausgabe erscheinen), lotet Derrida auf findige Weise die Möglichkeit einer anderen Art von Erfindung(sgabe), vis inventiva, Inventivität aus, die, vor dem Hintergrund unvermeidlicher narzisstischer Selbstbespiegelung, ein „Anderes“ kommen heißt, welches sich nicht auf die Logik des Selben zurückführen lässt. Inspiziert wird dafür eine Vielzahl einschlägiger Texte von Cicero (De Inventione), Paul de Man zur Allegorie, Heidegger, Leibniz (der zusammen mit Descartes für Derrida ein neues Regime der Erfindung begründet: das der technisch-instrumentellen Moderne.)

Gerade in Anbetracht der täglich brisanteren strittigen Fragen zum Urheber- und Patentrecht gestreift wir auch ein hierfür entscheidendes Gründungsdokument, die Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums kommen Derridas Analysen eine gesteigerte Bedeutung zu.

Peter Sloterdijk bemerkt in „Zeilen und Tage“:

„Was an Derridas Schreibweise auf die Dauer berührend wirkt, ist sein altmodisch selbstloses Ethos der Ausführlichkeit. Auf den ersten Blick erscheint sie schrecklich umständlich, auf den zweiten unnötig kokett, auf den dritten rücksichtslos platzverschwenderisch, doch vom vierten Blick an bewirkt sie eine stille Modifikation des Denkens. Es stellt sich dem Verlangen nach schnellen Einordnungen und bequemen Mustererkennungen hartnäckig in den Weg.“

Narziss(Caravaggio, 1598/99, Galleria Nazionale d'Arte Antica, Rom)

Narziss
(Caravaggio, 1598/99, Galleria Nazionale d’Arte Antica, Rom)

Denkmodifikation durch umständlich-kokett-platzverschwenderischen Ausführlichkeitsethos: Für Blanchots wie Derridas Versuche stellt der Wunsch, den fremdenfeindlichen, alteritätsaversen Spiegel der geschlossenen Selbstreflexion des Denkens zu zerbrechen nicht durch Abmilderung und Moderantismus, sondern gesteigerte Selbst-Referentialität, Überschreitung des Narzissmus hin zu einer Haltung der gastfreundlichen Öffnung, dem Willkommenheißen dessen, was inkalkulabel anders ist als es selbst, die Überraschung, das Unerwartete vielleicht den entscheidenden Impetus dar. Damit gehören ihre Schriften nach wie vor – und mehr denn je – zum Aufregensten, was einer Leseerfahrung heute zustoßen kann.

Tillmann Reik

Maurice Blanchot: Der literarische Raum (Original: L’espace littéraire. Paris: Gallimard, 1955). Herausgegeben von Marco Gutjahr. Aus dem Französischen von Marco Gutjahr und Jonas Hock. Zürich: diaphanes 2012. 336 Seiten. 29,90 Euro.
Jacques Derrida: Psyche. Die Erfindung des Anderen I. Herausgegeben von Peter Engelmann. Aus dem Französischen von Marcus Sedlaczek. Passagen. Wien 2012. 248 Seiten. 31,00 Euro.
Foto Psyché: wikimedia commons, Lleroy; Foto Heraklit: wikimedia commons, gemeinfrei.

Tags : ,