Geschrieben am 7. Februar 2009 von für Bücher, Crimemag

Martín Solares: Die schwarzen Minuten

Drogenkartell, Serienmörder, Korruption

Ein fast 500 Seiten starker Debütroman ist ein gewagtes Unternehmen. Der Mexikaner Martín Solares (*1970) soll rund sieben Jahre daran gearbeitet haben. Die schwarzen Minuten ist zweifellos einer der ambitioniertesten Kriminalromane, die Mexiko seit den großen Werken von Paco Ignacio Taibo II zu bieten hatte (wenn man von den noch nicht übersetzten Romanen von Juan Hernández Luna absieht). Warum der Funke trotzdem nicht so ganz überspringen will, ist bei einem Roman, der zweifellos an vielen Stellen glänzt, nicht leicht auf den Punkt zu bringen. Doris Wieser hat sich aber Mühe gegeben …

Solares erzählt in einer für das Genre ungewöhnlichen epischen Breite von der fiktiven Stadt Paracuán in Tamaulipas, einem Bundesstaat am Golf von Mexiko, der sonst in der Literatur nicht häufig präsent ist. Paracuán liegt in der Nähe der real existierenden Städte Tampico und Ciudad Madero, den wichtigsten Ölhäfen der Region. In einer ersten Zeitebene ermittelt der Polizist Ramón Cabrera, genannt El Macetón (der Dickschädel), im Fall des ermordeten Journalisten Bernardo Blanco, der eine „kolumbianische Krawatte“ verpasst bekommen hat, das heißt, ihm wurde die Kehle durchgeschnitten und die Zunge durch den Schlitz von unten herausgezogen. Die Vermutung liegt nahe, dass das Drogenkartell, das immer stärker von den Kolumbianern beherrscht wird, dahinter steckt. Oder doch nicht? Der Tote hat jedenfalls an einem Buch über einen Kriminalfall aus den 1970er Jahren gearbeitet. Vielleicht ist das die richtige Piste. Bevor Cabrera seine Ermittlungen abschließen kann, wird er von einem Drogenmafioso mit dem Auto gerammt und schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Dieser Erzählstrang bricht auf Seite 124 ab, um einem zweiten Platz zu machen, der die nächsten 300 Seiten füllt.Der zweite Strang erstreckt sich über die Jahre 1977 und ’78. Ein Serientäter bringt kleine Schulmädchen um, zerstückelt sie und legt sie an verschiedenen Stellen der Stadt ab. Der Polizist Vicente Rangel ermittelt. Bald fällt der Verdacht auf Jack Williams, den Sohn eines US-amerikanischen Industriellen, doch der Bürgermeister verbietet der Polizei, die mächtigen Ausländer zu belästigen. Der Verdacht rumort lange in Rangel – und im Leser. Am Ende ist der Mörder ein ganz anderer und darin besteht das eigentliche Skandalon, das Bernardo Blanco aufdecken wollte: Einige der wichtigsten politischen Karrieren der Stadt sind auf die Leichen der Mädchen gebaut.
Erst auf Seite 437 springt der Plot zurück zur Gegenwartsebene und zeigt die genauen Verbindungen zwischen beiden Geschichten auf. Schade nur, dass man nach über 300 Seiten Intermezzo einige Namen und Details der ersten Geschichte wieder vergessen hat und dann tatsächlich auf das Personenverzeichnis, das ganz am Anfang steht, angewiesen ist. Die ähnliche Konfiguration auf beiden Ebenen und die unzähligen Spitznamen, vereinfachen die Sache auch nicht gerade. Aber das ist nicht schlimm. Solares hat einen elaborierten Roman vorgelegt, der zunächst einmal viel Lob verdient.

Bewusst dosierte Gewalt, glaubhafter Kontext

Sehr bewusst und sinnreich dosiert Solares die Darstellung von Gewalt. Der Blick fällt nie direkt auf die zerstückelten Körper der Mädchen und trotzdem weiß der Leser am Ende, was ihnen zugestoßen ist. Der Erzähler beschreibt lediglich, welche Wirkung der grauenhafte Anblick der Leichenteile auf die Ermittler ausübt, eine Technik, die an die der Mauerschau im Theater erinnert. Anders verfährt er jedoch, wenn es um die Darstellung der von Gesetzeshand ausgeführten Gewalttaten geht. Die Beamten der Bundessicherheitsdirektion bestrafen beispielsweise einen Spitzel, indem sie ihm die Augen ausstechen. Das wird kurz, aber sehr deutlich geschildert, sodass der Leser mit seinem inneren Auge direkt auf die Szene blickt. Dieser Unterschied in der Darstellung ermöglicht eine differenzierte Sozialkritik. Der Serienmörder – ein nicht weiter interessanter Psychopath – ist nicht der, der uns etwas über Mexiko und unsere heutige Welt sagen könnte, denn er ist krank. Die entstellten Mädchenkörper minutiöser zu beschreiben wäre daher reiner Voyeurismus. Was aber in den oberen Gesellschaftsschichten unternommen wird, um die Tat zu vertuschen, wirkt durch die eben beschriebene Technik besonders abscheulich. Man nimmt hin, dass Menschen gefoltert werden, ein unschuldiger junger Mann lebenslänglich ins Gefängnis kommt und einige andere, wie Bernardo Blanco, ihr Leben lassen. Diesen Preis zahlt die durch und durch korrupte Gesellschaft, um ein paar karrieregeile Emporkömmlinge zu protegieren. Und dass das realistisch ist, glauben wir Solares gern, denn von vergleichbaren Skandalen kann man oft genug in mexikanischen Zeitungen lesen. So resümiert auch der augenlose Romero:

„Alle paktierten sie miteinander: die Regierung, der Präsident, und das alles auf dem Rücken der toten Mädchen. So wie überall auf der Welt war auch diese Stadt rings um die Gräber gewachsen“ (S. 431).

Ebenso wenig fehlt es dem Roman an Ironie und einem selbstreflexiven Gestus, was durch das Evozieren einiger literarischer Gestalten und dem Genre affinen Autoren erreicht wird (z.B. Rubem Fonseca, Truman Capote, Dürrenmatt, Stevenson, Hitchcock). Auch historische Personen wie der Schriftsteller Traven Torsvan (ein exilierter Deutscher) oder der berühmte Kriminologe Quiroz Cuarón, der seinerzeit als der „mexikanische Sherlock Holmes“ bezeichnet wurde, erzeugen eine ironische Distanz zum eigenen Werk. Quiroz Cuarón wird als unabhängiger Experte zu Hilfe gerufen und nutzt die Gelegenheit, seine mathematische Formel zum Lösen von Serienmorden zu testen. Und tatsächlich funktioniert sie. Quiroz weiß innerhalb eines Tages, wer der Mörder ist. Doch leider kann er dies nicht mehr kommunizieren, er wird vergiftet und nimmt die Wunderformel, auf die die Welt noch heute wartet, mit ins Grab. In Solares’ Mexiko haben solche Allheilmittel keinen Platz.

Grauer Brei, offene Enden

Man möchte meinen, der Autor habe alles richtig gemacht: Ein grausiges Verbrechen mit schauderhaften Folgen, eingebettet in einen spezifischen gesellschaftlichen Kontext mit allem nötigen Tiefgang, glaubwürdige Figuren, eine mehrstimmige Narration und eine kleine Überraschung am Ende.

Aber Solares hat den Leser etwas aus den Augen verloren, der alle Mühe hat, den Fundus an einzelnen Episoden zu entrümpeln. Nahezu jede der schier unzähligen Figuren erhält ihre eigene Geschichte, die über Erinnerungsfetzen oder bestimmte literarische Motive mit dem Fall verknüpft sind. Die eigentlich gut erdachten Handlungselemente verschwimmen in der Unmenge an ihnen ebenbürtigen Elementen. Solares hat aus hundert guten Zutaten am Ende einen grauen Brei gerührt, in dem man die Rosinen nicht mehr findet. Die Spannung fällt durch zu viele retardierende Elemente streckenweise rapide ab, der Brei wird immer zäher.

Auch ein paar Enden lässt der Mexikaner lose flattern. Ein Krimileser hätte sie jedoch gerne verknüpft gewusst – und nicht nur ein Krimileser, sondern jeder Leser mit einem Gefühl für die Daseinsberechtigung von Handlungselementen, die ja auf deren Funktion beruhen sollte. So wird an einem Tatort umständlich herausgearbeitet, dass der Mädchenmörder die Leichenstücke durchs Fenster in die Toilette geworfen haben muss. Warum er das getan hat, erklärt uns Solares aber letztendlich nie. Genauso verärgert die späte Entdeckung der Rechtsmedizinerin, dass Schafswolle unter den Fingernägeln der Opfer zu finden war. Der Täter soll die Mädchen mit Lämmern angelockt haben. Aber wie und warum genau? Diese und weitere Details hätte Solares sich sparen können, denn eine andere Funktion als ihre Auflösung haben sie nicht.

Fazit: Geduldige Leser werden an vielen Stellen belohnt. Ungeduldigen Spannungsliebhabern ist dagegen abzuraten.


Doris Wieser

Martín Solares: Die schwarzen Minuten (Los minutos negros, 2006). Roman. Deutsch von Barbara Mesquita. Bergisch Gladbach: Bastei-Lübbe 2008. 494 Seiten. 8,95 Euro.