Geschrieben am 7. Mai 2014 von für Bücher, Litmag

Martin Lechner: Kleine Kassa

entw_kassa_final.indd„Wissen Sie nicht, dass Sie heute früh tot aufgefunden worden sind?“

– Gisela Trahms hat Martin Lechners Roman gelesen.

Mit dem Titel fängt er schon an, der halsbrecherische Spaß: Was, bitte, macht eine österreichische „Kassa“ in der niedersächsischen Heide?! Georg, der 17-jährige Lehrling, muss des Öfteren einen Koffer dorthin transportieren, den ihm sein Chef, ein leidenschaftlicher Verteidiger des Eisenwareneinzelhandels namens Spick, unter allerlei Beschwörungen in die Hand drückt. Georg wüsste gern, was in dem seltsam leichten Koffer drin ist, andererseits dämmert ihm dunkel, dass es sich mit dem Nichtwissen gefahrloser lebt. Und der Leser wiederum weiß natürlich seit Hitchcock, dass ein gut verschlossener Koffer ein vorzüglicher McGuffin ist, der die Handlung lostreten, aber sein Geheimnis wahren und also verschlossen bleiben sollte, so lange es irgend geht.

Eine Flucht, eine Leiche, eine Gastwirtstochter in schwarzem Leder – vielversprechend und a tempo fängt die Geschichte an und bleibt es bis zum Schluss. Ein einziges Wochenende lang dürfen wir Georg begleiten, aber was dem gutwilligen Parzival in dieser knappen Zeit zustößt, würde wohl auch gefestigtere Mitmenschen um Kraft und Verstand bringen. Immer wieder muss er fliehen, niemals darf er schlafen, ein Schlamassel folgt auf den anderen, immer verzweifelter verstrickt er sich in eine Katastrophenprogression, wie man sie zwischen Heideboden und Heidehimmel nicht für möglich gehalten hätte. Und so schnell Georg auch rennt oder torkelt, jedes Entkommen mündet in den rasenden Stillstand, denn er rennt und torkelt im Kreis und kommt einfach nicht raus aus der Heide und dem Unheil, nur ganz zum Schluss, immer noch mit dem Koffer in der Hand, tut sich ein Hoffnungsspalt für ihn auf, der …

„Tot aufgefunden, ich?“

Auf dem Cover lächelt Martin Lechner so listig und entspannt, wie man sich den Autor eines solchen Debüts vorstellt. Aberwitzige story erfunden, einen Helden hineingestellt, den jeder ins Herz schließt und, am allerwichtigsten, das Ganze so trickreich erzählt, dass nicht nur ein weiterer Provinz- und Halbkrimi daraus wurde, sondern eine realitätssatte, intelligente Rätselhatz durchs norddeutsche Flachland. Denn während einerseits die Informationen nur so sprudeln, wird andererseits dies und das und jenes Allerwichtigste verschwiegen, so dass der Leser einerseits den Überblick zu haben wähnt, andererseits nicht weiß, wie ihm geschieht und die stolpernde Verwirrung mit dem Helden teilt. Und natürlich passt und witzt es da besonders, wenn Georg Briefchen schreibt, die von Thomas Bernhard stammen könnten, der auch ein paar Romane im Residenz Verlag veröffentlicht hat.

Neben Held und Handlung ist es eindeutig die Sprache, die hier für Genuss sorgt, die originellen Beschreibungen, die atemlose Geläufigkeit, der rhythmische Sinn. Ein Beispiel: Während der arme Georg zwecks Veränderung seines Äußeren beim Friseur sitzt, hofft er, dass er am Ende nicht aussehen wird

„wie ein Flüchtling, der in Gebüschen leben musste, in Tiefgaragen, zwischen Mülltonnen, notfalls eingegraben in einen Komposthaufen oder abgetaucht in die Schächte der Kanalisation, wo er sich mit den billigsten und stumpfesten Klingen immer wieder eine Glatze schabt, da er fürchtet, dass sich in seinen Haaren festsetzen könnte, was wir den Gestank des Scheiterns nennen wollen, auch wenn ihm dieser längst aus allen Poren dampft und jeden tätigen Menschen, dem er zu nahe kommt, die Flucht ergreifen lässt, zumal …“

und so geht es weiter, immer weiter, und vor lauter innerem Bildertrubel will der Leser schon gar nicht mehr wissen, wer hier eigentlich „wir“ sagt und wie es möglich ist, dass der miserable Schüler Georg, auf dem Friseurstuhl sitzend, seine Gedanken so wunderbar ausschweifen lassen und formulieren kann, dass er vom Duft des Erfolgs wie eine Rose riechen müsste?

Aber um solche und ähnliche Wunder zu begreifen, braucht man nur hier zu klicken und das Foto auf dieser Seite mit dem Schutzumschlagsfoto zu vergleichen. Eine Metamorphose geradewegs ins Glück hinein wird da dokumentiert, und wie immer sie zustande kam: Sie macht froh, und auch dafür sei Martin Lechner gedankt.

Gisela Trahms

Martin Lechner: Kleine Kassa. Residenz Verlag 2014. 264 Seiten. 22,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

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