Geschrieben am 20. März 2010 von für Bücher, Crimemag

Martin Cruz Smith: Die goldene Meile

Renko verrenkt sich

„Er hatte den Eindruck, dass er früher viel intelligenter war“, grübelt Arkadi Renko, die Spuren seines neuesten Falles angestrengt deutend. Nicht nur der abgehalfterte Moskowiter Ermittler sollte sich diese Frage stellen, sondern auch sein Schöpfer Martin Cruz Smith. 1981 legte er mit „Gorki Park“ ein grandioses Debüt als Krimiautor vor. Ebenso spannende wie kritische Bestseller über staatlichen Machtmissbrauch und soziale Missstände in der Sowjetunion und später in Russland folgten. Sein stärkstes Stück: „Treue Genossen“, das ein ätzendes Licht auf die langfristigen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe wirft. Zuletzt ein etwas fantastischer, aber trotzdem packender und überzeugender Roman über die wenig glorreichen Krieger des Tschetschenien-Einsatzes. Und jetzt das: „Die Goldene Meile“. Jörg von Bilavsky schüttelt sich …

Hübsches Mädchen aus der Provinz flieht mit Baby nach Moskau, wird von einem betrunkenen Soldaten angepöbelt, von einer Babuschka namens Tante Lena verteidigt und fällt am Ende ihrer beschwerlichen Reise in Tiefschlaf. Als sie aus ihrem seligen Schlummer erwacht, ist der Säugling verschwunden und sie verzweifelt. Die Suche nach dem Säugling auf drei dicht beieinander liegenden Bahnhöfen Moskaus inmitten einer durch und durch kriminellen Klientel kann beginnen. An ihrer Seite Renkos Ziehsohn, notorischer Rumtreiber und jugendliches Schachgenie. Zeitgleich und ganz in der Nähe. Hübsche Frau liegt leblos in einem schäbigen Wohnwagen. Scheinbar eine Prostituierte, scheinbar ein Selbstmord. Renko glaubt an Mord, sein Intimfeind und Vorgesetzter, Staatsanwalt Surin, natürlich an Freitod. An seiner Seite der wodkatrunkene Leutnant Viktor Und wem glauben wir? Wir glauben natürlich dem Retter der Witwen und Waisen – Renko. Denn so gut genährt und frei von Drogen ist keines der leichten Mädchen in Moskaus Bahnhofsviertel. Verdächtig vor allem die kunstvolle Körperhaltung, in der Renko die grazile Frau vorfindet.

Die spannende Frage lautet weniger: Gibt es einen Täter? Sondern: Haben die beiden Fälle etwas miteinander zu tun? Erst am Schluss erhalten wir darauf eine Antwort, und zwar eine eher enttäuschende. Aber auch die beiden Fälle für sich betrachtet, vermögen wegen ihrer künstlichen Konstruktion und Zufälligkeit kaum zu überzeugen. Wer die verbrecherische Welt kennt, ahnt bereits, dass der Säugling in die Klauen von Kinderhändlern geraten ist. Allerdings vermag der Leser die überspannte Reaktion der neuen Eltern auf das frisch erworbene Baby kaum nachzuvollziehen. Ganz abgesehen von der Tour de Force, die das wenige Monate alte Kind noch vor sich hat. Völlig unvorhersehbar sind allerdings die Motive für den Mord an der jungen Frau. Sie ist – Renkos kongenialer Kombinationsgabe sei Dank – nur eines von mehreren Opfern, die in ähnlicher Verfassung und ähnlicher Pose schon in Petersburg zu beklagen waren.

Moskauer Milieu

Keine Frage. Erneut gewährt uns Martin Cruz Smith mit Hilfe seiner russischen Freunde Einblicke in die Abgründe des Moskauer Milieus. Das harte und hoffnungslose Schicksal der Straßenkinder und Prostituierten führt er uns ebenso klar vor Augen wie die Verkommenheit brutaler Zuhälter und zynischer Oligarchen. Nicht zu reden von der Korruptheit der Staatsanwaltschaft und der Blindheit der Miliz, über die auch weniger aufmerksame Zeitungsleser allerdings schon bestens informiert sein dürften.

Um diese Untaten zu beleuchten, strapaziert der Autor das Glück und die Intuition seines Ermittlers diesmal allzu sehr. Und nicht nur das. Im Dunkeln bleiben auch die näheren Hintergründe der Morde und Motive des Täters. Zu kurz kommt auch die genauere Aufklärung über das berufliche Schicksal Renkos. Nur eines weiß der Leser am Schluss: Renko wird vermutlich weiterermitteln. Beim nächsten Mal aber bitte wieder mit glaubwürdigeren Verbrechen und Verbrechern. Mag in Russland das Chaos auch der Normalzustand sein, wie es im Epilog heißt. Im Roman kann ein wenig Ordnung nicht schaden.

Jörg von Bilavsky

Martin Cruz Smith: Die goldene Meile (Three Stations, 2010). Roman. Deutsch von Rainer Schmidt. München: C. Bertelsmann 2010. 256 Seiten. 19,95 Euro.
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