Geschrieben am 19. Juni 2013 von für Bücher, Musikmag

Martin Büsser: On the Wild Side. Die wahre Geschichte der Popmusik.

Martin Büsser_On the wild Sie - Die wahr Geschichte der Popmusik„Wer Musik verstehen will, muss auch ihre Vergangenheit kennen“

– Martin Büsser war ein kenntnisreicher Enthusiast, dem das aufbegehrende Element in der populären Musik eine Herzensangelegenheit war. Joachim Feldmann über Büssers neuaufgelegte „wahre Geschichte der Popmusik“.

Im Herbst 1967 erschien in der als Fachblatt für Jazzfreunde gegründeten Zeitschrift „Sounds“ eine ungewöhnliche Plattenbesprechung. Gegenstand der ebenso euphorischen wie programmatischen Rezension war „Freak Out“, die bereits im Vorjahr veröffentlichte erste Schallplatte der Mothers of Invention. „Sounds“-Gründer Rainer Blome zeigte sich überwältigt: „Diese Musik ist so spontan und kreativ, dass man sie nicht beschreiben kann. Man muss das hören.“ Dabei lag dem Musikjournalisten, der angesichts der Klangexperimente von Frank Zappa und seinem Ensemble in verboses Schweigen verfiel, noch nicht einmal das Gesamtwerk vor – auf den deutschen Markt gelangte damals nur eine auf die Länge zweier Schallplattenseiten gekürzte Version des Doppelalbums.

Das wirklich Interessante an dieser Besprechung ist allerdings nicht die hier dokumentierte Kapitulation des musikkritischen Intellekts vor neuen Tönen, sondern ihre Einleitung. „In aller Stille“, schreibt Blome, „hat sich eine musikalische Revolution vollzogen, die von den meisten Jazzfreunden gar nicht bemerkt wurde: In den letzten zwei Jahren hat sich eine Rockmusik entwickelt, die heutige Gefühle repräsentiert {…)“. Und dann nennt der Verfasser einige Bands, denen gemeinsam sei, dass sie eine Musik machten, „die auf dem Blues basierend den Anspruch auf Kunstmusik“ erhebe, darunter Eric Burdon & The Animals, die Beatles, die Rolling Stones und Jefferson Airplane. Wer sich als „engstirniger Jazzfan immer noch über Rock und Beat“ mokiere, so das Fazit des Textes, mache sich einfach „der Uninformiertheit schuldig.“ Die Rezension endet mit dem Versprechen, dass Sounds diese Musik weiterhin beachten werde. Und tatsächlich beginnt der Jahrgang 1968 mit Hinweisen auf Platten von Tyrannosaurus Rex, Quicksilver Messenger Service und The Incredible String Band, während dem Jazz nur noch eine winzige Nebenrolle zugewiesen wird.

Instinktiv traf die Redaktion damit eine Unterscheidung, die Jahrzehnte später dem früh verstorbenen Kulturjournalisten und Verleger Martin Büsser (1968-2010) als Grundlage für die Periodisierung seiner „wahren Geschichte der Popmusik“ dienen sollte, die – erstmal 2004 erschienen – jetzt in einer Neuauflage vorliegt. „1966 – Warum die Geschichte hier beginnen lassen? Warum nicht mit Elvis oder Bill Haley?“, fragt Büsser gleich zu Beginn seines Buches rhetorisch und liefert umgehend die Erklärung: „Weil die Geschichte des ‚modernen Pop’ dort ansetzt, wo Musiker erstmals für ihren eigenen Sound verantwortlich  waren. Es ist eine Geschichte, die immer dann beginnt, wenn Musiker ihre Eigenständigkeit, ihren Weg entdeckt haben.“ Was hier als quasi-autonomieästhetisches Postulat formuliert wird, spiegelt sich auch in der während der frühen siebziger Jahre gängigen Abgrenzung „progressiver“ von „kommerzieller“ Popmusik wider. Hitparadentaugliche Industrieprodukte im Singleformat auf der einen Seite, anspruchsvolle, individuell gestaltete Kunstwerke, im idealen Fall das so genannte Konzeptalbum, auf der anderen.

Büsser, Foto by Smalltown Boy

Büsser, Foto by Smalltown Boy

Büssers Pophistorie, die die Entwicklung bis zum Ende des letzten Jahrtausends kritisch rekonstruiert, müsste also spätestens in den Kapiteln zu Soul und Disco an der eigenen Vorgabe scheitern, lässt sich die entscheidende Rolle von Plattenfirmen (Motown, Stax) und Produzenten (Norman Whitfield) für diese Genres nur schwerlich leugnen. Auch die Punkrevolution gegen Ende der siebziger Jahre ist ohne die Kommerzprodukte des Glam-Rock kaum denkbar. All das weiß der Autor natürlich. Also widmet er sich in dem Kapitel „Sweet’n Bitter Soul Music“ vor allem der Radikalisierung der schwarzen Emanzipationsbewegung nach 1966 und tut den Soul der frühen Sechziger als „reine Tanz- und Unterhaltungsmusik“ ab.

Noch schwieriger wird die Einordnung des Punk-Phänomens, dessen Anfänge bereits die Aussicht massenhafte kommerzielle Verwertung in sich trugen. The Clash mussten sich noch dafür rechtfertigen, dass ihre erste Platte bei CBS erschien. Andere Bands waren da cooler: „Die Sex Pistols, deren Image nicht auf Glaubwürdigkeit, sondern auf Zynismus aufbaute, wechselten dagegen von einer großen Plattenfirma zur nächsten, ohne darüber auch nur ein einziges Wort zu verlieren.“

Bewundernswert ist an diesem Buch auch fast ein Jahrzehnt nach dem ersten Erscheinen die Energie seines Autors. Martin Büsser war ein kenntnisreicher Enthusiast, dem das aufbegehrende Element in der populären Musik eine Herzensangelegenheit war. Und sein Credo „Wer Musik verstehen will, muss auch ihre Vergangenheit kennen“ ist heute, da die „Grabenkämpfe zwischen den Generationen, Subkulturen und Stilen“ tatsächlich der Vergangenheit anzugehören scheinen, gültiger denn je.

Joachim Feldmann

Martin Büsser: On the Wild Side. Die wahre Geschichte der Popmusik. (Erstausgabe 2004). Mainz. Ventil Verlag 2013. 263 Seiten. 14,90 Euro. Foto: Smalltown Boy, Wikimedia Commons, Quelle.

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