Als aus Liebe Sex und Porno wurde
– Martin Amis, „bad boy“ der britischen Literatur und immer für eine Provokation gut, führt uns in seinem neuen Roman an eine historische Schwelle, an der die Liebe von allgegenwärtigem Sex und Porno droht abgelöst zu werden: „Es war der Sommer 1970 … und der Geschlechtsverkehr hatte große Fortschritte gemacht.“ Von Karsten Herrmann
Martin Amis lässt seinen Protagonisten Keith diesen Sommer zusammen mit dessen Freundin Lily sowie einigen anderen englischen Jungen und Mädchen einen Urlaub in einem italienischen Schloss verbringen. Der kettenrauchende Literaturstudent und verkappte Dichter nutzt die Zeit nicht nur, um einen englischen Klassiker nach dem anderen zu verschlingen, sondern auch um seiner sexuellen Fantasie und Libido freien Raum zu verschaffen. Objekt seiner Begierde ist zunächst die sinnlich überwältigende Sheherezade mit ihren langen Beinen und ihrer üppigen Oberweite, die gleichzeitig von einem kleinwüchsigen und schwerreichen italienischen Adeligen umworben wird. Doch der akribisch vorbereitete Seitensprung platzt und endet in einem beziehungstechnischen Fiasko. Schließlich entpuppt sich aber die unscheinbare Gloria völlig überraschend als „eine große, virtuose, schier übermütige Betrügerin“, und Keith erlebt „die Geburtsstunde des Animalischen“. Diese führt ihn schließlich zehn Jahre später nach einer Reihe von missglückten Beziehungen dazu, Gloria zu heiraten. Es beginnt eine „pornotheologische Schmierenkomödie“, die im „Psychohorror“ endet.
Mit bissiger, ironischer Distanz zeigt Martin Amis, wie sich in der Dekade der Libertinage der Sex von der Liebe und dem Gefühl trennt. Hier markiert er die Wurzel des aufscheinenden Zeitalters der Pornografie, in dem es nur noch um Spiel, verführerische Oberflächen und exzessiv gesteigerte Sinneserlebnisse geht.
„Die schwangere Witwe“ ist ein in seinem Vokabular wohlkalkuliert provozierender und zugleich avanciert komponierter Roman, der aus der Sicht des alternden Keith erzählt wird. Durch unzählige intertextuelle Bezüge ist er eingebettet in die englische Literaturgeschichte und eines ihrer zentralen Motive: Die Liebe in all ihren Variationen und Verfallsstadien. Punktuell schwingt sich Martin Amis in seinen Szenen und Dialogen im Schloss bis zu den Höhen Shakespearescher (Tragi-)Komödien auf und ihrer virtuosen Wort- und Spiegelfechtereien. Doch letztlich leidet der Roman trotz oder gerade auch wegen seiner obsessiv durchdeklinierten Fleischeslust an seltsamer Blutleere und vermag keine durchgängige Sogwirkung zu entfalten.
Karsten Herrmann
Martin Amis: Die schwangere Witwe (The Pregnant Widow, 2010). Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Hanser 2012. 414 Seiten. 24,90 Euro