Der Mann, der den Holocaust stoppen wollte
– Marta Kijowska verfasst die erste deutsche Biographie über den polnischen Untergrundkämpfer Jan Karski, der am 24. April 100 Jahre alt geworden wäre. Von Michael Zeller
Seit vielen Jahren gehört sie zu den führenden Vermittlern polnischer Kultur hier in Deutschland: die Kulturjournalistin Marta Kijowska. Aufgewachsen in einer Krakauer Literatenfamilie, kam sie studienhalber nach Deutschland und ist hier hängen geblieben, ohne je den intimen geistigen Kontakt zu ihrer Heimat preiszugeben. In den großen Tageszeitungen des Landes, in Funk und Fernsehen berichtet sie mit großer kultureller und historischer Sensibilität über Literatur, Film und Theater dieser Jahre in Polen und sorgt damit für einen qualifizierten Informations- und Meinungsaustausch zwischen Deutschen und Polen. Nach der jahrzehntelangen Sprachlosigkeit während des Kalten Kriegs bestand ja auch in diesem Bereich ein immenser Nachholbedarf – und besteht bis heute weiter.
Neben dem aktuellen Tagesgeschäft des Journalisten schreibt Marta Kijowska neuerdings auch Bücher zu polnischen Kulturthemen, in einem so geschmeidigen Deutsch, dass man ihr kaum mehr abnehmen möchte, dass Polnisch ihre Muttersprache ist. Nach Biographien der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski und Stanislaw Jerzy Lec hat sich Marta Kijowska jetzt zum ersten Mal aus dem kulturellen Gehege hinausgewagt in die allgemeine Zeitgeschichte.
Mit diesem Frühjahr liegt bei C.H. Beck in München „Das Leben des Jan Karski“ in Buchform von ihr vor, als die erste Biographie dieses Mannes auf Deutsch. In Polen genießt Jan Karski seit langem den Status eines Helden, über allen Parteienstreit hinweg. Mehr noch: Er ist Teil des nationalen Mythos der Polen geworden, umgeben von einer Aura tragischen Scheiterns. Ich war gespannt, wie Marta Kijowska es schaffen könnte, einem deutschen Leser diese doch sehr polnische Lebensgeschichte nahe zu bringen. Es ist ihr mit Bravour gelungen.
„Er hatte genau Bescheid gewusst!“
Dramatischer Höhepunkt im Leben des Jan Karski sind die Jahre 1942 und 1943. Die deutsche Wehrmacht hält sein Heimatland Polen besetzt und konzentriert hier auch noch die Vernichtungslager, in denen die Juden Europas zu Millionen ausgerottet werden. Karski, verwöhnter Elegant auf dem Sprung zu einer Diplomatenkarriere, geht 1939 sofort in den Untergrund und wird aktives Mitglied des Widerstandes. In mehreren Sprachen zu Hause, dient er als Kurier zwischen der Heimat und der polnischen Exilregierung erst in Frankreich, dann in London. In jeder dieser Missionen steht sein Leben auf dem Spiel.
Vor einer neuerlichen Reise nach London wagt Karski das Außerordentliche: Er lässt sich in das jüdische Getto von Warschau und in ein Vernichtungslager einschleusen und besichtigt beides unter den Augen der deutschen Bewacher. Ziel ist es, die westlichen Kriegsgegner Hitlers, England und Amerika, ganz konkret und detailliert über die Ausrottung der Juden zu informieren. Das Schreckliche, was er dort an beiden Orten zu sehen bekommt, muss er sich in sein Gedächtnis einprägen. Irgendwelche Notizen mit auf die Reise zu nehmen, wäre zu gefährlich.
Karski kommt durch, und er schafft es bis in die höchsten Amtsstuben. In England empfängt ihn Außenminister Anthony Eden, in Washington sogar Präsident Franklin Roosevelt. Überall hört man ihm zu, höflich, äußert seine Empörung und Abscheu. Doch niemand denkt daran, einen Finger für die bedrohten Juden zu rühren. An nichts ist man im Westen so dringlich interessiert wie an der Niederwerfung der deutschen Kriegsmaschinerie und an einem möglichst schnellen Ende des Krieges. Da meinen sie, keine Zeit für die Rettung jüdischen Menschenlebens übrig zu haben.
Karski ist fassungslos. Nach dem Krieg wird er sagen: „Eine der schlimmsten Schocks meines Leben war, als Eisenhower nach Deutschland fuhr, um zu sehen, was dort geschehen war. Man erzählte mir, dass es Eisenhower, als er ein Lager betrat, für einige Augenblicke die Sprache verschlagen hätte. Das war doch Heuchelei! Er hatte genau Bescheid gewusst!“
Spannender Außenblick auf das letzte Jahrhundert
Auch an einer zweiten Front geht der Kampf Jan Karskis ins Leere. Nach der Niederwerfung Hitlers liefern Churchill und Roosevelt die Polen, die sechs Jahre so tapfer und verlustreich gegen Hitler gekämpft hatten, an Stalin aus. Der braunen Diktatur folgt die rote, für mehr als eine ganze Generation: 45 Jahre lange Jahre. Karski lässt sich in Amerika nieder und wird Professor für politische Wissenschaften, Schwerpunkt natürlich Osteuropa. Er musste sehr alt werden (86 Jahre), ehe sich seine Niederlagen allmählich in etwas Positives auflösten und ab 1990 wieder in eine lebenswerte Zukunft zeigten.
Marta Kijowska spannt den Lebensbogen Jan Karskis von seiner Geburt 1914 in der Industriestadt Lodz bis zu seinem Tod in Washington im Jahr 2000. Sie schöpft aus dem Vollen der polnischen Zeitgeschichte und Kultur, wenn sie die einzelnen Stationen der Biographie mit einem reichen Material unterfüttert, das zumal einem deutschen Leser nur zu einem kleineren Teil bekannt sein dürfte. Mit ihrer polnischen Außenperspektive legt sie zudem einen Blick auf das letzte Jahrhundert frei, der einem hierzulande das Eigene in einem überraschend neuen Licht erscheinen lässt.
Eine äußerst dichte, fesselnde Lektüre von knapp 400 Seiten.
Michael Zeller
Marta Kijowska: Kurier der Erinnerung. Das Leben des Jan Karski. C.H. Beck 2014. 382 Seiten. 24,95 Euro. Foto: Jan Karski at USHMM, 1994. Photo by E. Thomas Wood. Wikimedia Commons, Quelle. Autor.